Kirchenaustritte auf Rekordniveau: Höchste Zeit für Veränderungen

Stand: 23.06.2023 14:30 Uhr

Immer mehr Menschen treten aus den großen christlichen Kirchen aus. Was sind ihre Gründe? Und wie lässt sich das aufhalten? Die Hamburger Pastorin Vanessa von der Lieth sucht Antworten.

von Gesa Berg

Kirche ohne Menschen: Die beiden großen christlichen Kirchen leiden unter einem dramatischen Mitgliederschwund. Der evangelischen Kirche gehören nur noch etwa 19 Millionen Menschen an. Die Gründe dafür sind vielschichtig, wie Menschen aus Norddeutschland bei einer Straßenumfrage erzählen: "Über die Jahre hat die Kirche durch meine persönliche Entwicklung immer mehr an Relevanz verloren für mich", erzählt ein junger Mann. "Für mich war es der finanzielle Aspekt”, sagt eine Frau, während eine andere erzählt: "Ich empfand es immer als Zwang, in die Kirche zu gehen. Das war einfach eine Erziehung in der Tradition: Alle gehen in die Kirche, egal, ob du möchtest oder nicht."

Skandale, Missbrauchsfälle und ein schlechter Umgang damit 

Pastorin Vanessa von der Lieth aus Hamburg-Altona ist bewusst, dass viele Menschen unzufrieden sind mit der Institution. Viele wählen ein System ab, das sie für veraltet und starr halten. "Ich kann Menschen sehr gut verstehen, die aus der Kirche austreten, zumal ich selber auch als junger Mensch aus der Kirche ausgetreten bin. Mehr Menschen sagen jetzt: Ich kann mir das nicht mehr leisten. Ich finde, das sollten wir auch wirklich ernst nehmen."

Pastorin Vanessa von der Lieth geht vor eine Kirche an einem Zaun entlang. © NDR
Vanessa von der Lieth ist Pastorin in der Hamburger Kirchengemeinde Altona-Ost.

Ein anderer gewichtiger Grund für die vielen Austritte, so von der Lieth: "Es gab Skandale, es gab schlimme Missbrauchsfälle und einen schlechten Umgang mit diesen. Den Menschen ist auch völlig egal, ob es sich dabei um die evangelische oder die katholische Kirche handelt. Das kriegen immer beide Kirchen zu spüren." Ansonsten erzählten ihr Austrittswillige auch von persönlichen Schlüssel-Erlebnissen: "Also vom Pastor, der bei der Trauerfeier etwas Dummes gesagt hat, oder von der Pastorin, die bei der Trauung die Namen verwechselt hat oder irgendwas ausgeplaudert hat, was eigentlich nur Backgroundwissen war. Und dann sind die Leute wirklich persönlich gekränkt und sagen: Nee. Wenn ihr euch so wenig Mühe gebt, dann gehen wir."

Pastorin Vanessa von der Lieth: Mit Anfang 20 selbst ausgetreten 

Jemanden umstimmen, der sich zum Austritt entschieden hat, würde die Pastorin nie tun. Das hat auch mit ihrer persönlichen Geschichte zu tun. Als junge, unkonventionell denkende Frau fühlte sie sich in ihrer Gemeinde plötzlich falsch. "Ich war sehr engagiert in der Jugendarbeit meiner Heimatgemeinde und habe mich am Ende mit einzelnen Leuten gestritten. Mit Anfang 20 hatte ich wie die meisten Menschen in dem Alter eine starke Neigung zu Schwarz oder Weiß und war dann so wütend, dass ein Verbleib in der Kirche für mich nicht mehr ging. Ich bin dann rausgegangen, habe mich auf die Suche gemacht nach anderen religiösen und spirituellen Erfahrungen."

Als sie merkte, dass das wonach sie gesucht hatte, auch anderswo nicht zu finden war, kehrte sie zur Kirche zurück: "Ich hatte das Gefühl: Hier ist das Dach noch am weitesten, wo  viele unterschiedliche Leute von liturgisch sehr konservativ bis sehr bunt irgendwie einen Platz finden."

Neue Ideen: Mehr Musik und eine Agentur für Rituale 

"Die" evangelische Kirche gebe es eben nicht. Von der Lieth hat mit Altona-Ost eine zukunftsorientierte Gemeinde in Hamburg gefunden, die verschiedenste Menschen anspricht. "Es gibt natürlich nicht das eine Konzept, dass Kirche retten oder ganz neu aufstellen wird", so die Geistliche. "Es gibt viele Experimente. Es gibt jüngere Kolleginnen, die tolle Sachen machen mit Musik. Es gibt diesen Bereich Popularmusik, wo die Leute einfach tolle Sachen aufziehen, auch mit Videos. Die sind sehr präsent in Social Media und bilden Online-Communities."

Weitere Informationen
Im Innenraum einer umgewidmeten Kirche, die jetzt eine Werbeagentur ist, stehen zwei Hunde. © NDR

Umwidmung oder Abriss? Die Kirchen müssen Gebäude aufgeben

In den kommenden Jahren werden die Kirchen rund 40.000 Immobilien aufgeben müssen. Was passiert mit den Gebäuden? mehr

Die Pastorin erzählt von Versuchen in Hamburg, die Rituale als einen Schwerpunkt zu setzen: "Ich glaube, es gehört zu unseren Kernkompetenzen, dass wir besondere Stationen im Leben von Menschen begleiten können. Wenn Kinder getauft werden, wenn Menschen heiraten, wenn wir Menschen beerdigen. Es gibt eine Ritual-Agentur, die gerade versucht, auch an ungewöhnliche Orte zu gehen und nicht so ganz konventionelle Sachen zu machen."

Pastorin ohne Kirchturm macht Stadtteilarbeit nah am Menschen 

Pastorin Vanessa von der Lieth im Porträt © NDR
Ohne Kirche fehle ein Raum, "wo Menschen leistungsfrei leben können", findet von der Lieth.

Ihre Kirchengemeinde hat sich schon vor Jahren neu aufgestellt: Drei Kirchen mit vier Pastorenstellen und unter jedem Dach ein spezialisiertes Angebot. Vanessa von der Lieth ist hier die Pastorin ohne Kirchturm. Sie macht Stadtteilarbeit nah am Menschen und netzwerkt, indem sie Gruppen unterschiedlicher Herkunft und Religion zusammenbringt.

"Wenn es Kirche nicht mehr gibt, dann fehlt ein Raum, wo Menschen leistungsfrei leben können", meint von der Lieth. "Wenn ich im Sportverein bin, dann komme ich vielleicht in die zweite Mannschaft, wenn ich nicht gut genug spiele. Das sind aber vielleicht nicht die Leute, mit denen ich zusammen sein wollte, aber da geht es eben nach Leistung. Mein Anspruch an uns als Kirche wäre, Räume zu schaffen, in denen Menschen nichts leisten müssen, um sie selbst sein zu können, um sich entfalten zu können und um Gemeinschaft mit anderen, die wieder anders sind, erleben zu können."

Wer kümmert sich um die Menschen am Rande der Gesellschaft? 

Die Kirche wird sich massiv an Personal und Gebäuden verschlanken müssen. Offen bleibt, wer sich um die Menschen am Rand der Gesellschaft kümmert, wenn die Arbeit der Diakonien und Ehrenamtlichen wegbrechen. 

Die Menschen auf der Straße haben auf jeden Fall ein Bild von einer Kirche, die gesellschaftlich relevant bleibt. "Kirche muss ja nicht heißen, dass ich viel bete oder viel tue in gläubiger Hinsicht", erzählt eine Frau. "Es kann auch eine sehr schöne Gemeinschaft sein, in der man sich engagiert, in der man sich trifft und von der man auch wieder etwas zurückbekommt." Ein junger Mann meint: "Ich glaube, Kirche vermittelt im weitesten Sinne Werte und Normen, jetzt nicht nur im Sinne der zehn Gebote, sondern allgemein." Und selbst die Frau, die von dem Zwang spricht, den die Kirche für sie bedeutet hat, meint: "Ich glaube, dass die Kirche oder auch Glaube in der Gemeinschaft tatsächlich eine große Stütze sein kann für die Menschen."

Mehr Glaubens- und Wertegemeinschaft, weniger Institution. Das fordern viele Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind. Höchste Zeit, dass die Kirchen sich noch mehr verändern.

Weitere Informationen
Leere Kirchenbänke © IMAGO / Panthermedia

Bleiben oder gehen? Kirchenaustritte beschäftigen den Norden

Immer mehr Menschen treten aus den Kirchen aus. Woran liegt das? Beim NDR Schwerpunkttag suchen wir nach Antworten. mehr

Ein Mann verlässt eine Kirche © picture alliance/dpa Foto: Ingo Wagner

Zahl der Katholiken geht um mehr als eine halbe Million zurück

Das teilte die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) am Mittwoch in Bonn mit. Auch im Norden gibt es deutlich weniger Katholiken. mehr

In der Kirche St. Jakobi hängt ein Gemälde an einer kahlen, grauen Wand. © NDR Foto: Janet Lindemann

"Totentanz" in der Kulturkirche St. Jakobi in Stralsund

Seit vielen Jahren thematisiert Rubica von Streng Leben und Tod in ihrer Kunst. Ihr Werkzyklus "Totentanz" erregt nun viel Aufmerksamkeit. mehr

Bild des Doms von Güstrow © IMAGO / Volker Preußer

Neue Wege in der Kirche: "Wir müssen Trüffelschweine werden"

Von den traditionellen Formaten der Gemeindearbeit fühlen sich immer weniger Menschen angesprochen. Ein junges Landpastorenpaar erprobt neue Wege. mehr

Eine Kirchenorgel © NDR Foto: Katrin Schwier

Kirchenaustritte: Bedrohen sinkende Mitgliederzahlen die Kirchenmusik?

Seit 1990 sind die Mitgliederzahlen der großen Kirchen in Deutschland von mehr als 72 Prozent auf unter 50 Prozent gefallen. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur - Das Journal | 26.06.2023 | 22:45 Uhr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Die Schauspielerin Katharina Thalbach sitzt auf einem Sofa. © Screenshot

Katharina Thalbach mit "Ein Wintermärchen" wieder in der Elphi

"Ein Wintermärchen" mit Katharina Thalbach in der Elbphilharmonie ist fast ein Klassiker. Heute ist die erste von neun Aufführungen. mehr