100 Jahre Chilehaus: Vision und Utopie
Das Chilehaus war zu seiner Erbauung berühmter als der Hamburger Michel. In diesem Jahr wird es 100 Jahre alt. Die Urenkelin des Bauherren Isabel Arends hat darüber 22 Erzählungen veröffentlicht.
Weltkulturerbe, vor 100 Jahren das meistdiskutierte Haus der Welt und mit dieser Spitze einfach spitze: "Eine Burg der Arbeit, ein großes Schiff, ein Haupttor zum Hafen - so wurde es gefeiert", sagt Isabel Arends. Staunen - das lernt man hier. Den Blick reißt es sofort in die Höhe, wie bei einer Kathedrale. Isabel Arends steht am Bug des Klinkerbaus. Ihr Urgroßvater Henry Sloman war der Bauherr der architektonischen Ikone, die in diesem Jahr 100 Jahre alt wird. "Wir stehen an der Spitze und schauen nach oben. Diese quergestellten Klinker werden wie eine Stäbchenmatte aufgefächert und einmal ums ganze Haus rumgezogen. Das ist der besondere Rhythmus", erklärt Arends.
Symbolträchtige Tierfiguren am Chilehaus in Hamburg
Ein Kontorhaus aus rhythmisierten Steinen. Wer der Kunsthistorikerin und Autorin folgt, lernt neu hinzugucken. Denn die Klinkerwände sind mit Figuren geschmückt: mit Pflanzen, Schiffsmodellen, Kinderfiguren. Und vor allem mit Tieren aus Chile: Prärieeulen, Brillenbären, Pelikane und - natürlich an der Spitze - der Kondor, das Nationaltier Chiles. "Der Kondor ist für die Indios der Götterbote, das Tier der Sonne, das den Menschen den Himmel auf die Erde bringt", erklärt Arends. "Er ist wie eine Galionsfigur angebracht. Trotzdem ist es mehr so, als ob der Kondor mit dem Band, das er trägt, in die Welt fliegt."
"Im Licht des silbernen Kondors" heißt das Buch mit 22 Erzählungen von Isabel Arends. Jede Erzählung beginnt mit einem Detail, anschließend schreibt sie eine fiktive Szene aus den Jahren der Erbauung oder aus den Jahren, als ihr Urgroßvater Henry Sloman in Chile sein Vermögen mit Salpeter-Abbau machte. "Ich habe als Kind immer vor dem großen Chilehaus-Bild meiner Eltern gestanden und hatte die Frage: Warum ist das Haus so einsam, was erzählt das Haus? Ich hatte immer das Gefühl, dieses Haus erzählt Geschichten", sagt Isabel Arends.
Expressionistische Eisenkunst im Inneren
Kleine fiktive Dialoge, in denen die großbürgerliche Welt einer Kaufmannsfamilie aufscheint - und in denen diskutiert wird, welchen Figurenschmuck das Gebäude einmal tragen soll. Das Material: Klinker, früher Betonguss, Metall - damals Hightech. Im Inneren findet man grün oder tiefblau gekachelte Treppenhäuser und es kriechen Eidechsen über die Geländer. "Das sind die Originale", erzählt Arends. "Wie das ineinanderfließt - der geschnitzte Handlauf und da drunter das Zacken-Eisenband -, ist expressionistische Eisenkunst."
Alles ist durchkomponiert. Da das Gebäude in der Inflationszeit gebaut wurde, waren hier die besten Handwerker, aber mit schlechtem Material. Der Klinker war dritte Wahl, erzählt Arends: "Die wurden eigentlich nur für Pferdeställe oder Fußböden verwendet, aber hier hat Fritz Höger die Herausforderung angenommen und die durchglühten Ziegel so gesetzt, dass sie Sonnenreflektoren bilden und nach oben heller werden."
Musik aus Stein - mit Schatten und Sprüngen
So entstand diese lebendige Klinkerhaut, die heute in der Sonne glänzt. Hier wird ein Gebäude selbst zu einem offenen Buch: Die freiheitlichen Ideen der 1920er-Jahre und dieser Blick in die Welt wurden hier zu Architektur, wenige Jahre vor Hitlers Machtergreifung - und wenige Jahre, bevor Fritz Höger selbst NSDAP-Mitglied und glühender Antisemit wurde. "Hier ist die Welt eingefangen", sagt Isabel Arends. "Wenig später hätte man einen anderen Weg gehen können - sie hätten die Freiheit, die in diesem Haus steckt, für eine andere Richtung verwenden können." Das Chilehaus ist Musik aus Stein, eine Vision, eine Utopie. Mit Schatten und Sprüngen. Und Tieren.