Gendern: Mehr Zwischentöne und Gelassenheit
Aktuell beginnt das Sammeln der Unterschriften für die Volksinitiative "Schluss mit Gendersprache in Verwaltung und Bildung" in Hamburg. Doch wo sind die Zwischentöne in der Debatte? Ein Blick zurück könnte helfen - und mehr Gelassenheit.
Gendersprache, allein das Wort erhitzt die Gemüter. Die Hamburgerin Sabine Mertens hat die Volksinitiative "Schluss mit Gendersprache in Verwaltung und Bildung" auf den Weg gebracht. In dieser Woche beginnt nun das Sammeln von Unterschriften.
Wann schreibe ich Schüler*innen mit Sternchen, Doppelpunkt, Binnen-I oder Unterstrich? Wann Schülerinnen und Schüler - oder neutraler - Schulkinder? Strenge Regeln gibt es nicht, sagt die Germanistin Tanja Stevanovic. Ausprobieren statt verbieten, dazu ermuntert sie. Das sei "auch ganz spannend, weil das gerade Sprachwandel in Aktion ist".
Sprache beschreibt unsere Gesellschaft
Sprache beschreibt unsere Gesellschaft. Sprache verändert sich mit der Gesellschaft. In der alten Bundesrepublik dürfen Frauen seit 1977 ohne Erlaubnis ihres Ehemanns arbeiten gehen. Eine Kapitänin oder Pilotin sind zu dieser Zeit noch besondere Ausnahmen - in der Gesellschaft und der Sprache. "Angefangen hat es ja erst mal mit Kritik an der Sprache. Es heißt ja auch feministische Sprachkritik. Dass man erst mal die Probleme benennt, und dann aber auch sagt: Und jetzt machen wir Vorschläge", erklärt Stevanovic.
In den 70er-Jahren entsteht die Idee der Doppelnennungen - wie Studentinnen und Studenten. Stilblüten der Zeit sind Wörter wie Mitgliederinnen. Bis heute sind Doppelnennungen wichtig, wenn es darum geht, eine unbekannte Gruppe anzusprechen. Zum Beispiel bei Rundbriefen oder Stellenausschreibungen. "Gerade bei Schulkindern gibt es eine Studie, die zeigt, dass, wenn man verschiedene Berufe vorstellt und dabei auch die weibliche Form verwendet, zum Beispiel Pilotin, Astronautin, dass dann eben auch die Mädchen in der Klasse sich eher vorstellen können, diesen Beruf einmal selbst auszuüben", sagt Stevanovic.
Sprache beeinflusst Denken und Handeln
Sprache beeinflusst unser Denken und Handeln. Sprache bestimmt, wie wir die Welt sehen. Und auch, wie wir unsere Vergangenheit beschreiben. Archäologie war bis in die 70er-Jahre ein reines Männerstudium, sagt Archäologin Julia Koch: "Es wurde ja tatsächlich hauptsächlich über Männer geforscht. Die Sprache war männlich. Es wurde hauptsächlich über die Schwerter geforscht und über die Kriegergräber, es war die männliche Elite, die im Vordergrund stand. Jetzt wurde doch mal wirklich gefragt: Ja, wo waren denn die Frauen?"
Hitzige Debatten in der Forschung haben sich inzwischen beruhigt. Weibliche Blickwinkel führen auch zu neuen Denkweisen. Die 30.000 Jahre alte "Venus von Willendorf" heißt nun schlicht Frauenfigur von Willendorf. Denn Venus als Göttin der Liebe beschreibt eine Benutzung als Fruchtbarkeitsgöttin: "Sie kann genauso gut eine Ahnenfigur gewesen sein oder ein Sexobjekt oder ein Spielzeug oder ein Lehrmittel für verschiedene Schwangerschaftsstufen", so die Archäologin Koch. Vielfalt ist ein Mehrwert unserer Gesellschaft.
Geschlecht wird überbetont
Aktuelle Gendersprache in Rundschreiben oder Stellenangeboten versucht, möglichst alle anzusprechen. Doch lohnt sich das? Ja, sagt Germanistin Tanja Stevanovic: "Die Tatsache, dass viele keine Transperson kennen, liegt ja nicht unbedingt daran, dass es keine gibt, sondern dass sie sich eben ganz häufig nicht zu erkennen geben können oder wollen, weil das Umfeld, in dem sie leben, das nicht ermöglicht."
Empfindlichkeit bei Bürger, Bürgerin und Bürger*in ist ein Phänomen unserer Zeit. Aktuell wird das Geschlecht überbetont - vielleicht ein Ausgleich für einen lange existierenden blinden Fleck in der Sprache. Ein Blick zurück, nach vorne und zur Seite hilft, mehr Zwischentöne und Gelassenheit zuzulassen.