"Anselm": Sinnliches Kino von Wenders über Kiefers Kunst
Sie teilen einen Jahrgang und kennen sich seit 30 Jahren: Wim Wenders und Anselm Kiefer. Wenders' Dokumentarfilm "Anselm: Das Rauschen der Zeit" in 3D lässt Kiefers Werk sinnlich erfahren.
Beim eben zu Ende gegangenen Hamburger Filmfest stellte Regisseur Wim Wenders gleich zwei neue Werke vor: Einerseits den Spielfilm "Perfect Days" über einen Toilettenreiniger in Tokio.
Andererseits einen Dokumentarfilm über Anselm Kiefer - derzeit einer der bedeutendsten bildenden Künstler weltweit. Um sein Werk im Kino erfahrbar zu machen, nutzt Wenders - wie schon in seinem Film über das Tanz-Theater von Pina Bausch in 3D-Optik.
Anselm Kiefers Reich gleicht einem Fabrikgelände
Das Atelier eines bildenden Künstlers stellt man sich als Raum mit hohen Fenstern, lichtdurchflutet vor. Anselm Kiefers Reich gleicht eher einem Fabrikgelände. Vor ein paar Jahren hat er einer insolventen Kaufhauskette die Lagerhallen außerhalb von Paris abgekauft.
Hier sieht man ihn nun mit dem Fahrrad von einem Kunstobjekt zum nächsten strampeln - und auf seinen großformatigen Leinwänden werkeln. Pinsel und Farben waren ihm nie genug, Kiefer modelliert seine Bilder aus Erde, Stroh, Sand, Stofffetzen, versengt sie mit Feuer und übergießt sie mit Blei.
Kiefer hat auf oft erschütternde Weise Landschaftsmalerei wieder möglich gemacht. Man kann doch, sagt er, eine Landschaft nicht einfach malen, wenn Panzer durchgefahren sind. Zitat aus einem Fernsehbericht über Anselm Kiefer
Anselm Kiefer schuf provokante Fotoreihe mit Hitler-Gruß
Anselm Kiefer ist, wie Regisseur Wim Wenders, 1945 in Deutschland geboren. Beide teilen also die Erinnerung an Jugendjahre, in denen ihr Land nichts mehr wissen wollte von den Nazi-Verbrechen. Kiefer hat sich als junger Künstler umso energischer an der deutschen Vergangenheit abgearbeitet. Im Film sind Bilder zu sehen, die von den Gedichten Paul Celans inspiriert sind. Und eine provokante Foto-Reihe, die Kiefer mit Hitler-Gruß vor europäischen Sehenswürdigkeiten zeigt. Auf retrospektive Kommentare des heutigen Künstlers verzichtet Wenders.
Anselm Kiefer: Den Spiegel vors Gesicht gehalten
Es gibt auch keinen erklärenden Sprechertext im Film, nur Archivaufnahmen, die beim Einordnen helfen. In diesem Fall ein Fernsehinterview mit dem jungen Kiefer: "Das war zu ner Zeit, 1968/69, als dieses ganze Thema zweiter Weltkrieg, Faschismus, Drittes Reich, überhaupt nicht behandelt wurde. Also in der Schule hatten wir das drei Wochen lang, und das war's dann. Zu dieser Zeit war es unbedingt wichtig, das wieder ins Gedächtnis zu rufen und daran zu arbeiten. Also ich hab' jedem eigentlich den Spiegel vors Gesicht gehalten." sagte damals Anselm Kiefer im Gespräch.
Wim Wenders: "Anselm Kiefer ist ein Universalgenie"
Über die Jahrzehnte hat sich Kiefers Themen-Spektrum in alle möglichen Richtungen erweitert. Wenders sieht in ihm vor allem einen großen Denker. "Das ist ein Maler, wie es keinen anderen auf der Welt gibt. Der hat vor nichts Angst, und der malt alles. Er malt das Weltall, und er malt unterirdisch, und er malt Natur, und er malt Mythen und Geschichten. Er ist ein Universalgenie. Seine Bücherei ist ungefähr so groß wie in Deutschland Büchereien für eine ganze Stadt. Und er hat auch alles gelesen. Er ist ein Gelehrter."
Angefreundet haben sich Regisseur und Maler schon vor gut 30 Jahren. Da es bis zum gemeinsamen Film etwas gedauert hat, gibt es nun ein Großwerk von Anselm Kiefer zu bestaunen. Vor den Lagerhallen bei Paris war eine Ziegelei im Odenwald, dann ein 80 Hektar großes Gelände in Südfrankreich seine künstlerische Spielwiese. Es gibt dort begehbare Architektur-Kunstwerke, unterirdische Gänge, Skulpturen-Landschaften.
Für Wenders stand fest, dass 3 D-Technik notwendig sein würde, um mehr zu bieten als einen filmischen Ausstellungskatalog. "Letzten Endes ist eine Kinoleinwand, eine normale flache, auch nur ein Katalogbild. Und das, was er macht in dieser physischen Vielschichtigkeit - die Bilder haben ja eine Dicke von 20, 30 Zentimetern, ganz zu schweigen von all den architektonischen Sachen, die er macht. Das ist so viel Information, dass ich das in 3D einfach besser zeigen kann, weil die Sachen eine andere Präsenz haben."
Das Großartige am Film ist, dass er dem Publikum wirklich Zeit lässt, Kiefers Werke in Ruhe zu betrachten, sinnlich zu erfahren. Keine hektischen Schnitte, kein atemloser Ritt durch fünf Jahrzehnte Künstler-Leben und -Schaffen. "Das ist nämlich beim 3D-Film ganz wichtig, wird leider überhaupt nicht beachtet bei den ganzen Action-Filmen, dass man Zeit hat, was zu sehen. Das Gehirn braucht viel mehr Zeit, um die Tiefe und das Zehnfache an Bild-Information zu verarbeiten", so Wenders.
Ihm gelingt es mit diesem Film, im wahrsten Sinne Augen und Ohren zu öffnen. Denn auch die Musik ist außergewöhnlich: Der junge Komponist Leonard Küßner hat die Kiefer prägenden Paul-Celan- und Ingeborg-Bachmann-Gedichte kongenial vertont.
"Anselm - Das Rauschen der Zeit" ist keine biografische Künstler-Dokumentation, sondern eine fast reine Werkschau. Und genau dieses Weniger - plus 3 D-Brille - ist so viel mehr.
Anselm – Das Rauschen der Zeit
- Genre:
- Dokumentation & Reportage
- Produktionsjahr:
- 2023
- Produktionsland:
- Deutschland
- Veröffentlichungsdatum:
- 12.10.2023
- Länge:
- 93 Minuten
- FSK:
- ab 6 Jahren