Wim Wenders über Anselm Kiefer: "Ein Maler, wie kein anderer"
Wim Wenders, der lange an der HfBK Hamburg unterrichtet hat, hat im Mai beim Filmfest Cannes seinen 3D-Film über Anselm Kiefer präsentiert, den Wenders als "Universalgenie" bezeichnet. Ein Gespräch über die Entstehung des Filmes und Kiefers Kunst.
"Wim Wenders ist jemand, für den ich große Bewunderung habe", sagt Festivalleiter Thierry Frémaux. "Einige seiner Filme gehören zu meinen Favoriten." Der deutsche Filmemacher und Regisseur hat bereits zwölf Filme in Cannes vorgeführt und 1984 mit "Paris, Texas" die Goldene Palme erhalten. Mehr als 60 Filme hat er von "Himmel über Berlin" über "Knocking on Heaven's Door" bis zu "Pina" gedreht.
Im Mai feierte sein neuer 3D-Film über Anselm Kiefer, "Anselm", Weltpremiere. Am Ende des Festivals lief sein Drama "Perfect Days" im Wettbewerb. Im Gespräch mit NDR Kultur erzählt der Düsseldorfer von der Bedeutung Kiefers, die Entstehungsgeschichte des Filmes und der Suche nach der Musik nach Texten von Paul Celan.
Herr Wenders, die Musik von Claude Debússy erklingt auf der Leinwand, man sieht Treppenstufen, dann erscheint das goldene Logo des Festivals. Sie haben hier in Cannes oft Filme präsentiert, die Goldene Palme gewonnen. Was für Gefühle kommen hoch, wenn Sie "Anselm" im Grand Théâtre Lumière bei der Weltpremiere erleben und begleiten?
Wim Wenders: Diese Anfangsmusik ist übrigens nicht von Debussy. Das ist ein zeitgenössischer französischer Komponist. Man denkt, es ist ein geklauter Debussy. Diese schöne Musik, wo die Stufen erscheinen, da kriegt man schon ein bisschen Kribbeln, die habe ich ein paar Mal gehört. Das ist schon einzigartig. Das gibt es in keinem anderen Kino der Welt. Da muss man schon im Grand Palais sitzen, damit man die hört. Das war schön.
Was hat Sie an Anselm Kiefer fasziniert?
Wenders: Die Antwort wird Sie erstaunen: seine Kunst. Das ist ein Maler, wie es keinen anderen auf der Welt gibt, der hat vor nichts Angst, und der malt alles. Es gibt nichts, was er nicht malen würde. Er meint das Weltall, er malt unterirdisch, Natur, Mythen und Geschichten. Er ist ein Universalgenie.
Seine Bücherei ist ungefähr so groß wie eine, die in Deutschland eine ganze Stadtbücherei füllen würde, und er hat auch alles gelesen. Er ist ein Gelehrter. Gleichzeitig wollte er nie etwas anderes sein, als Maler, und hat all das, was er weiß und kennt, oder was er liebt, ihn bewegt, immer gemalt. Nach seiner Abreise aus Cannes sitzt er wieder vor seiner Leinwand, da kann man sich darauf verlassen. Der malt jeden Tag wie ein Besessener. Und im Moment macht er gerade eine große Serie von Bildern über James Joyce' "Finnigans Wake". Da bin ich sehr gespannt darauf, was er da macht, das hat er mir noch nicht verraten.
Wie einfach war es, ihn zu überzeugen, beim Film mitzumachen? Es ist nicht nur ein Film über seine Kunst, er ist auch präsent im Film?
Wenders: So viel ist er selbst nicht präsent. Es gibt noch sein Alter Ego, ihn selbst mit 40 und ein junges Alter Ego, mit zehn Jahren. Es war nie so schwer, ihn zu überzeugen. Wir haben uns eigentlich gegenseitig überzeugt.
Wir kennen uns seit 1991. Da hat er in Berlin in der neuen Nationalgalerie eine Ausstellung aufgebaut. Es war seine damals größte in Deutschland nach dem Riesenerfolg, den er in der angelsächsischen Welt, vor allem in Amerika hatte, als er damals als größter lebender Künstler heimkam nach Deutschland. Diese Ausstellung hat er ein paar Wochen lang aufgebaut, und abends kam er immer ins "Exil", mein Stammlokal.
Dann haben wir uns kennengelernt und die eine oder andere Zigarre zusammengeraucht und Wein getrunken und uns viel erzählt. Dann bin ich auch mal gucken gegangen, was er aufbaut in der Nationalgalerie, war von den Socken. Das war der nackte Wahnsinn. Es hat mich wahnsinnig bewegt, und dann haben wir uns gut kennengelernt und irgendwann hat Anselm gesagt, 'pass auf, ich als einer, der mal Filme machen wollte und jetzt Maler bin und du als einer, der Maler werden wollte und jetzt Filme machst, wir könnten doch mal was zusammen machen.' Das war der Plan. Dann kam die Eröffnung der Ausstellung, die ich großartig fand, aber die beim Großteil der deutschen Presse völlig zerrissen wurde, in der Luft zerrissen wurde. Ich habe das überhaupt nicht verstanden.
Anselm war schwer geknickt. Ich habe es gemerkt, wie sehr ihm das an die Nieren gegangen ist. Ein paar Monate später ist er umgezogen, nach Frankreich. Ich bin ein paar Monate später auch in die Weltgeschichte, bin nach Amerika. Dann haben wir uns zwar hin und wieder gesehen und waren immer noch alte Freunde. Aber unser Projekt wurde erst mal aufs Eis geschoben.
Dann 2019 habe ich ihn zum ersten Mal im Ateliergelände in Südfrankreich bei Barjac besucht, wo ich nie war, dieses Gelände, das man im Film gut sieht. Da war ich doch recht von den Socken und ich habe gesagt, "Now or Never", weil ich gerade Zeit hatte. Er hatte auch noch nicht so richtig etwas vor. Dann haben wir uns die Hand gegeben, nicht wissend, dass ein paar Monate später die Pandemie anfing. Wir haben während der ganzen Pandemie gedreht, in sieben Blöcken zwischen 2020 und 2023. Er war heilfroh, als ich ihm gesagt habe, "wir machen bestimmt keine Interviews". Ich wollte keinen Film, in dem der Künstler selbst erklärt, was er gemacht hat. Wir haben ein Film gemacht, der die Kunst sprechen lässt.
Der Film beginnt mit Aufnahmen von Frauenkleidern, sie sind Licht durchflutet. Das hatte auch etwas von Ihrem 3D-film "Pina" über Pina Bausch, mit den Tänzern im Raum. War das Zufall?
Wenders: Es war so ein bisschen ein Zufall. Diese Kleider sind Hochzeitskleider, sind super geeignet zum Tanzen. Anselm hat diese Skulpturen gemacht, die alle keinen Kopf haben, sondern alle nur Büsten sind und für ihn die Frauen der Antike dargestellt haben. Es gab in der Antike Dichterinnen und Denkerinnen, Philosophen und Architektinnen und Astronomen und Physikerinnen. Das gab es alles, aber nichts ist mehr übrig. Übriggeblieben ist die Arbeit der Männer. Wir fanden noch ein bisschen was von Sappho. Sie ist die einzige, von der es noch Verszeilen gibt. Mir hat es wahnsinnig gut gefallen, wie diese Frauen der Antike überall stehen. Sie sind auch irgendwie so ein bisschen am Tanzen, gerade in diesem Raum, der so lichtdurchflutet ist, habe ich vielleicht auch durch die Arbeit an meinem Film "Pina" gleich an Tanz gedacht. Und dann habe ich auch diese Frauen auserkoren als meine Erzählerinnen, die auch miterzählen, auch wenn man nicht immer versteht, was sie sagen.
Wo spricht Kiefers Kunst zu Ihnen, Sie sind Zeitgenossen, haben bestimmte Epochen gemeinsam unterschiedlich erlebt.
Wenders: Die spricht mich schon an, wie Geschichte vorkommt und verarbeitet wird, die spricht mich an, wie Schönheit vorkommt, auch wenn die Bilder zum Teil malträtiert und gebrannt werden, und draußen im Freien stehen, manche jahrelang. Und was Anselm alles tut, um sie einem Zeitprozess zu unterziehen.
Die Bilder sind alles Zeitzeugen, da ist sehr Zeit mit eingebaut, mehr als in irgendeiner anderen Kunst, die ich kenne. Das berührt mich, wie sehr Zeit darin vorkommt. Wie Anselm es geschafft hat, mit all seinen verschiedensten Techniken, mit dem Feuer und dem Blei, aber auch mit Elektrolyse. Einige Bilder kommen in den Ofen und brennen da, als ob sie drei Jahre lang in der Sonne in der Sahara gelegen haben. Und dann ist das alles voller Cracks (Risse, Anmerkung der Red.). Ich weiß gar nicht, wie das auf Deutsch heißt.
Zeit, wie sie da vorkommt, ist für mich etwas ganz Bewegendes. Weil die Zeit ist auch mein Hauptarbeitsmittel, um Filme zu machen. Sein Zugang, wie er Zeit in Malerei gebracht hat, finde ich atemberaubend. Und dass er sich alles traut.
Das Riesenareal in Südfrankreich zeigen Sie ausgiebig, es ist monumental. Sie haben das jetzt für die Ewigkeit konserviert. Ist das öffentlich zugänglich?
Wenders: Dieses ganze Gelände ist jetzt eine Stiftung, und Sie können da hinfahren, müssen sich vorher anmelden und kriegen eine Führung. Die machen am Tag so zehn Führungen für Gruppen. Es ist ultrabeliebt. Ich fürchte, wenn der Film rauskommt, müssen Sie länger Schlange stehen.
Hängen Sie sehr an 3D?
Wenders: Ich hänge schon sehr an 3D. Bei "Pina" war das noch eine große Entdeckung. Es war ja eine Sprache, die es noch gar nicht gab. Die Leute haben mir damals gesagt, "du spinnst mit 3D". Wer soll das denn zeigen können? Dann kam James Cameron mit "Avatar". Und damit die Kinos, die "Pina" spielen können würden. Dem bin ich ewig dankbar dafür. Unsere Kameras waren zum Teil Marke Eigenbau, die waren wahnsinnig schwer, Prototypen. Inzwischen ist es ein völlig anderes Ding. Wir haben also mit der ultragrößten Auflösung gedreht, die das menschliche Auge überhaupt wahrnehmen kann, weil die Arbeiten erstens so groß sind und zweitens da im Detail so viel steckt. In 3D sieht man mehr, als auf einer normalen Leinwand. Die dritte Dimension gibt auch eine andere Tiefe der Wahrnehmung. Auch emotional ist man mehr involviert. Eigentlich will man das im Kino.
Inwieweit hat Anselm Kiefer sich in den Film eingebracht, so, wie er jetzt geworden ist?
Wenders: Nach dem wir uns viel unterhalten haben und ich tausend Sachen erfahren habe, was ich alles noch nicht über ihn wusste, habe ich mal die Frage gestellt: "Ganz im Ernst, was stellst du dir jetzt vor, was ich für einen Film mache? Soll ich dir ein Konzept schreiben?" Er sagte, "pass mal auf, ich will nur eines: Ich will, dass du mich überrascht. Mit dem ganzen Rest lässt du mich in Ruhe. Ich will kein Muster sehen, keinen Schnitt sehen. Das ist dein Film. Aber bitte, überrasch' mich." Und das hat er am Premierenabend als erstes gesagt. "Junge, ich bin überrascht."
Wie ist die Musik zum Film gekommen - hatten Sie die vorher im Kopf?
Wenders: Ich hatte gar nichts im Kopf. Ich weiß, dass Anselm klassische Musik kennt. Dass er nicht so viel mit Popmusik am Hut hat, so wie ich, also mit Blues und Rock'n'Roll. Aber dann habe ich mir gesagt, ich muss einen Komponisten finden, weil etwas benutzen, was es schon gibt, ist eigentlich langweilig. Es ist schöner, wenn eine Musik für den Film gemacht ist. Als wir den ersten Schnitt hatten, habe ich meiner Cutterin gesagt, jetzt schauen wir mal, ob es nicht irgendwo etwas in der Musikgeschichte gibt, der letzten 50 Jahre, wo jemand aus den Gedichten von Paul Celan etwas vertont hat. Paul Celan war sehr wichtig für einen Anselm, auch für uns, weil so viele seiner Gemälde die Titel oder Schriften von Celan tragen. Meine Cutterin Maxi hat hat vier Lieder nach Paul Cellans Gedicht "Einsamkeit" gefunden.
Jeweils zwei Zeilen. Daraus hatte ein junger Abgänger der Filmhochschule Ludwigsburg ein Lied gemacht - mit einer klassischen Sängerin und einem Orchester. Das war seine Abschlussarbeit. Der Junge war gerade fertig mit der Filmhochschule Ludwigsburg. Ich habe diese vier Lieder gehört und gesagt, "den möchte ich mal kennenlernen". Dann kam dieser 27-jährige Jungspund und war ein Ass.
Wir haben ihm erst einmal eine Szene gegeben und gesagt, "mach mal Musik für diese Szene". Das war dann sensationell. Und dann haben wir ihm immer mehr gegeben. Und anschließend haben wir uns gesagt, "du machst jetzt den ganzen Film, und zwar mit dem richtigen Orchester". Jetzt ist er 29 und immer noch ein Babyface. Leonard Küßner hat einen sehr schönen musikalischen Namen, so wie Leonard Cohen und Leonard Bernstein. Er ist wirklich hochbegabt. Und kommt aus derselben Gegend, wie Anselm Kiefer, wie die beiden zu großer gegenseitiger Freude festgestellt haben.
"Anselm Das Rauschen der Zeit" startete im Verleih von DCM am 12. Oktober in den deutschen Kinos. Das Gespräch führte Patricia Batlle.