Zwei ältere Damen verneigen sich vor Publikum © picture alliance/dpa/farbfilm filmverleih | -

"Miss Holocaust Survivor": Schönheitswettbewerb der Überlebenden

Stand: 12.11.2023 06:00 Uhr

Einmal im Jahr findet in Israel ein ungewöhnlicher Schönheitswettbewerb statt. Die Teilnehmerinnen teilen ein Schicksal: Sie sind Überlebende des Holocaust. Die Doku "Miss Holocaust Survivor" begleitet sie auf ihrem Weg zum Catwalk.

Probe für einen der merkwürdigsten Schönheitswettbewerbe der Welt: Zwölf Frauen im Alter von 75 bis 95 Jahren flanieren einen Laufsteg entlang. Sie tragen ihre schönsten Kleider, Schmuck und Make-up und geben mit ihren gealterten Gesichtern und zerbrechlichen Körpern dem Wettbewerb einen ganz eigenen und besonderen Witz und eine Würde. Ein Wettbewerb, in dem es um innere Schönheit geht.

Wir suchen hier Kandidatinnen für einen Schönheitswettbewerb.
Ah, okay.
So junge Frauen wie mich?
Ja, genau wie dich.
Alle hier sind so jung wie du.
Tova. Ich bin Tova. Wie alt ich bin? Ich bin 93 Jahre alt. Filmzitat

Die letzte Generation der Überlebenden

Sie, die letzte Generation der Überlebenden, wurden in ihrer Kindheit der Freiheit und auch ihrer Mädchenjahre beraubt. Deshalb soll es so sein wie bei einer normalen Misswahl, nur ein bisschen anders. Man spürt die Freude, raus dem langweiligen Alltag eines Altersheims, auch wenn allen bewusst ist, dass die Veranstaltung schon etwas speziell ist.

Der Film erzählt die Lebensgeschichte vor allem von zwei sehr unterschiedlichen Frauen: Rita und Tova. Rita kam 1974 nach Israel. Sie war Religionslehrerin, Psychiaterin und ist bis heute Malerin. Ein bewegtes Leben, drei Berufe und dreimal verheiratet. In der Malerei verarbeitet sie ihre Erlebnisse - und doch wird sie eingeholt von den schrecklichen Erinnerungen, vor allem an die 19 Monate, die sie sich in einer Grube verstecken musste. "Meine Familie und ich verstecken uns mit mehr als zwanzig anderen in den Höhlen im Wald. Ich ersticke fast am Geruch so vieler Menschen, zusammengepfercht in einer kleinen Höhle. Kinder weinen und ihre Eltern ersticken sie beinahe, damit sie still sind", erzählt Rita. "Mein Vater brachte manchmal alte Kleidung mit vielen Knöpfen mit. Also habe ich, das erzähle ich sonst nie, also habe ich die Knöpfe geschluckt, um mich umzubringen."

Tova: "Es ist schwer zu beschreiben, was wir durchgemacht haben"

Das müsse man sich einmal vorstellen, sagt Regisseur Radek Wegrzyn: "Dass man mit acht Jahren - ich kenne keine Achtjährige, die auf die Idee kommen würde, Selbstmord begehen zu wollen, und bei Rita war der Fall, während sie diese neunzehn Monate in dieser Grube ausharren musste." Rita berichtet, dass Schweinefett vorbereitetet wurde: "Ein ganzes Glas musste ich trinken. Dann zählte meine Mutter die Knöpfe, als ich Durchfall bekam. Sie kamen alle heraus und ich bin am Leben."

Tova ist dieses Jahr einhundert Jahre alt geworden. Sie trainiert noch heute jeden Tag im Fitnesscenter.  Sie hat dem Staat Israel, so sagt sie, acht Soldaten geschenkt. In Libec, Groß-Rosen und Schömberg überlebte sie Vergewaltigung und Misshandlungen. Ihren Kindern erzählte sie davon erst, als sie erwachsen waren. Sie hat sich eines geschworen: In ihrem Leben nie mehr wehrlos und Opfer zu sein. "Es ist schwer zu beschreiben, was wir durchgemacht haben", sagt Tova. "Plötzlich kam der Aufseher und fragte: 'Wer hat Zahnschmerzen? Der Zahnarzt ist da'. Große Freude. 'Ich habe Zahnschmerzen'. Okay, Tova geht zum Zahnarzt. Weißt du, was sie mir angetan haben? Siehst du diese Zähne? Sie zogen alle meine Zähne. Der schmerzende Zahn blieb drin. Die restlichen haben sie gezogen. 14 Zähne haben sie gezogen."

Kritik am Schönheitswettbewerb

Was für ein Leben: mit über 80 jetzt in einer großen Stretchlimo zur großen Show der Misswahl. In Israel gab es vereinzelt Kritik, makaber und würdelos wäre das Ganze. Doch die Frauen haben sich entschieden, dabei zu sein. Ihre Körper waren als Mädchen auf ihre Art Schlachtfelder von Hunger, Vergewaltigung und vielem mehr. Und jetzt, im hohen Alter, werden sie hübsch gemacht für eine Misswahl. Verkehrte Welt?

"Man darf nicht vergessen, dass der Wettbewerb, zumindest zur Hälfte, von einer Traumatherapeutin ins Leben gerufen wurde, die jeden Tag mit Holocaustüberlebenden zu tun hat", sagt Regisseur Radek Wegrzyn. "Jedem der fragt 'Ist so etwas okay? Ist so etwas nicht okay? Darf man so etwas machen?' kann ich nur entgegenhalten: Es gibt nur eine Instanz, die das beantworten kann, solange es sie gibt. Und das sind die Frauen selbst."

Was ist der Sinn?

Die Misswahl ist zu Ende und der Alltag im Altenheim geht weiter. Sie haben das Grauen überstanden und sich für das Überleben entschieden, auch wenn die Frage bleibt, welchen Sinn das alles hatte.

Was ist der Sinn?
Glaubst du, es gibt einen Sinn? Filmzitat

"Ich glaube an einen", sagt Rita. "Für mich heißt es nicht, 'es gibt ihn', sondern 'es muss ihn geben'. Es muss. Ich weiß nicht, ob es ihn gibt oder nicht. Aber es muss ihn geben. Ich kann ihn nicht sehen, nicht hören, nicht fühlen. Aber es muss ihn geben. Warum all das?"

Weitere Informationen
Gedenkstein an die Opfer des Holocaust auf dem Jüdischen Friedhof in Rostock. © picture-alliance/ dpa/dpaweb Foto: Bernd Wüstneck

Holocaust: Der Völkermord der Nazis an den Juden

Mehr als sechs Millionen Juden wurden während der NS-Zeit ermordet. Daran erinnert jedes Jahr am 27. Januar ein Gedenktag. mehr

Die Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover Rebecca Seidler sitzt in einer Synagoge. © dpa-Bildfunk Foto: Julian Stratenschulte

Vorsitzende Jüdischer Gemeinde Hannover: "Nie wieder ist jetzt"

Rebecca Seidler erwartet konkrete Taten von der Politik, um Antisemitismus zu stoppen - und Schutz durch die Zivilgesellschaft. mehr

Kleine Steinchen liegen auf dem Schriftzug eines Gedenksteins während der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Bergen-Belsen. © dpa - Bildfunk Foto: Peter Steffen

KZ-Gedenkstätten: "Die Bedrohung von rechts wird spürbar"

Die Anfeindungen von Jüdinnen und Juden ist so allgegenwärtig wie schon lange nicht. Das zeigt sich auch in den KZ-Gedenkstätten im Norden. mehr

Ein Teilnehmerin einer Kundgebung zur Solidarität mit Israel steht auf dem Julius-Mosen-Platz im Stadtzentrum von Oldenburg, auf ihrem Rücken eine Israel-Fahne. © picture alliance / Hauke-Christian Dittrich

Jüdisches Leben in Norddeutschland wird zunehmend bedroht

Einen Monat nach dem Hamas-Massaker in Israel am 7. Oktober ist das Leben der norddeutschen Jüdinnen und Juden nicht mehr wie vorher. mehr

Ulrich Kühn © NDR Foto: Christian Spielmann

Nachgedacht: Antisemitismus ist niemals diskutabel

Seit Tagen ist offensichtlich, dass es in Deutschland manifesten Antisemitismus gibt. Manche sagen, das sei nicht so neu. Ulrich Kühn fragt dennoch: Wie kann das sein? mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur - Das Journal | 13.11.2023 | 22:45 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Dokumentarfilm

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Zwei Gladiatoren in einer Arena im Lederoutfit kämpfen miteinander - Szene mit Paul Mescal (links) und Pedro Pascal aus "Gladiator II" von Ridley Scott © Paramount Pictures Germany

Filme 2024: Diese Highlights kommen im Herbst

Bis Weihnachten locken Blockbuster wie "Gladiator 2" und "Konklave" von Edward Berger ins Kino. Auch von Nora Fingscheidt und Andreas Dresen gibt es Neues. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Josephine Teske © NDR Foto: Tim Piotraschke

"Jauchzet, frohlocket": Weihnachten als Anfechtung an uns selbst

Wieviel Freude und Gelöstheit sind angemessen nach schrecklichen Ereignissen, wie dem Anschlag in Magdeburg? Pastorin Teske im Gespräch. mehr