Vorsitzende Jüdischer Gemeinde Hannover: "Nie wieder ist jetzt"
85 Jahre nach den Novemberpogromen gibt es überall im Land Gedenkfeiern. Rebecca Seidler, Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, fordert: Es darf nicht nur bei Kranzniederlegungen und Worten bleiben.
Frau Seidler, das Massaker der Hamas in Israel ist einen Monat her. Heute finden bundesweit Gedenkfeiern statt um an die Novemberpogrome 1938 zu erinnern. Wie blicken Sie in diesem Jahr auf den 9. November?
Rebecca Seidler: In diesem Jahr steht der Gedenktag natürlich unter einem ganz besonderen Fokus. Nämlich, dass wir als jüdische Gemeinschaft in Deutschland eben nach wie vor einen massiven Antisemitismus erleben. Häufig wird gerade am 9. November gesagt: "Nie wieder!". Nie wieder ist jetzt. Wir müssen als demokratische Gesellschaft wirklich alles gemeinsam dafür tun, gegen Antisemitismus aus allen unterschiedlichen Milieus vorzugehen.
Welche Bedeutung haben da Regierungserklärungen und Gedenkfeiern?
Seidler: Die Regierungserklärung des Ministerpräsidenten war ein ganz wichtiges und erforderliches Signal für die jüdische Community. Es darf aber nicht bei Worten bleiben. Wir erwarten jetzt konkrete Taten, damit Antisemitismus auf den Straßen gestoppt wird. Diese Gedenktage sind deshalb wichtig, damit sich die Gesellschaft mit der deutschen Geschichte auseinandersetzt. Mir ist aber wichtig, dass es nicht bei Kranzniederlegungen bleibt. Sondern, dass man sich immer wieder überprüft, ob genug dafür getan wird, den Schutz jüdischen Lebens auch heute zu gewährleisten. Für uns Jüdinnen und Juden ist das Gedenken an die Shoah ein permanentes Thema. Die Erinnerungsarbeit und -kultur ist fester Bestandteil jüdischen Lebens.
Die Zahl der antisemitischen Straftaten steigt an. Sie fordern schon lange, dass Jüdinnen und Juden besser geschützt werden. Ist genug passiert?
Seidler: Wir haben jetzt eine Bedrohungslage, die es so seit der Shoah in Deutschland nicht mehr gab. Auch das Massaker in Israel am 7. Oktober war der schlimmste Massenmord an Jüdinnen und Juden seit der Shoah. Wir sehen: Antisemitismus hat in Deutschland einen Nährboden. Natürlich werden die jüdischen Einrichtungen in enger Absprache mit der Polizei gut geschützt. Aber wir brauchen den Schutz auch durch eine aktive Zivilgesellschaft - und da ist jeder gefordert.
Eine aktive Zivilgesellschaft braucht die richtige Bildung. Haben Sie den Eindruck, dass da alles richtig läuft?
Seidler: Antisemitismus muss viel mehr Thema in den Schulen sein. Ich fordere seit vielen Jahren, dass es als Pflichtfach in der Lehrerausbildung fest verankert wird. Auch Lehrkräfte müssen vorbereitet und geschult werden. Denn gerade jetzt sehen wir, dass der Nahost-Konflikt in den Klassenzimmern angekommen ist. Viele Lehrkräfte sind damit überfordert. Deswegen ist es wichtig, dass die Lehrkräfte jetzt geschult werden und dass das Thema Antisemitismus in den Klassen besprochen wird.
Das Interview führt Mandy Sarti, NDR.de