Kleine Steinchen liegen auf dem Schriftzug eines Gedenksteins während der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Bergen-Belsen. © dpa - Bildfunk Foto: Peter Steffen

KZ-Gedenkstätten: "Die Bedrohung von rechts wird spürbar"

Stand: 09.11.2023 16:53 Uhr

Am 9. November 1938 brannten in Deutschland Einrichtungen und Geschäfte von Jüdinnen und Juden. Heute, 85 Jahre später, ist öffentliche Anfeidung wieder spürbar - etwa in den KZ-Gedenkstätten im Norden.

von Isabel Schneider

Ein kühler Herbstmorgen in der Gedenkstätte Neuengamme vor den Toren Hamburgs. Noch immer kommen viele Menschen hierher. Das Durchschnittsalter liegt bei Anfang 30, doch die KZ-Gedenkstätte Neuengamme sieht sich einem Problem gegenüber. Anfeindungen und Angriffe von rechts nehmen zu.

"Es gibt eben den Vandalismus, der sich gegen Objekte oder materielle Hinterlassenschaften richtet", sagt Oliver von Wrochem, Leiter der Gedenkstätte Neuengamme. Es gebe Angriffe im Netz. Doch noch mehr Sorgen bereitet ihm ein neues Phänomen: "Es gibt zunehmend Besuche von Menschen mit rechtsextremem Hintergrund, die deutlich offener auftreten, als das noch vielleicht vor zehn Jahren der Fall war." Im Norden sei man zwar nicht so stark betroffen wie beispielsweise in Ostdeutschland, trotzdem werde die Bedrohung von rechts immer mehr spürbar.

Weitere Informationen
Ivar Buterfas-Frankenthal © Screenshot
2 Min

Gedenkstätte Neuengamme nutzt soziale Netzwerke

Mitarbeitenden wollen so die Erinnerung lebendig halten - zwischen Hassrede und Antisemitismus, brauche es laute Gegenstimmen. 2 Min

Bergen-Belsen: Mehr Besucher mit rechtsextremem Gedankengut

In der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen in Niedersachsen stellt man ebenfalls fest, dass die Anfeindungen zunehmen. Auch hier gab es in den vergangenen zwei Jahren ungebetene Besucher mit rechtsextremem Gedankengut. "Das bekommt eine neue Qualität dadurch, dass Menschen, die gegen uns nicht einfach nur ignorieren, sondern auch ganz präsent und ganz öffentlich ihre Meinung kundtun", berichtet Stefanie Billib von der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Für Oliver von Wrochem lässt sich hier ganz klar ein Trend erkennen. Geschichtsrevisionistische bis rechtsextreme Positionen bekommen immer mehr Aufwind. Ein gesamtgesellschaftliches Problem, sagt von Wrochem, das mit dem Erstarken von rechtspopulistischen Parteien eng zusammenhängt.

"Man kann einerseits feststellen, dass es offener und unverblümter artikuliert wird. Aber was mir mehr Sorgen macht, ist, dass zunehmend Menschen in Deutschland offensichtlich diese Position nicht mehr verwerflich finden und Parteien wählen, die in ihren Reihen Rechtsextreme haben und das auch ganz offen thematisieren."

Weitere Informationen
Sergio de Simone mit seinen Cousinen Tatjana und Andra an Sergios sechstem Geburtstag, 29.11.1943. © Archiv KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Sammlung Günther Schwarberg

NS-Verbrechen: Mord an den Kindern vom Bullenhuser Damm

In der Nacht vom 20. zum 21. April 1945 wurden 20 Kinder im Außenlager des KZ Neuengamme erhängt. Die Cousinen des kleinen Sergio erfuhren erst spät davon. mehr

Die Grenzen des Sagbaren sind verschoben

Auch Stefanie Billib sagt, dass sich in der Gesellschaft insgesamt etwas verschoben habe, die Grenze des Sagbaren. Dadurch sei ein Raum entstanden, in dem sich Rechtsextreme immer sicherer fühlten und offensiver vorgehen. "Dinge, die früher selbstverständlich tabu waren, sind auf einmal sprechbar geworden. Und viele Menschen, glaube ich, trauen sich jetzt, so etwas zu äußern."

Jeder Angriff, ob Vandalismus oder Schmiererei im Gästebuch, wird von den KZ-Gedenkstätten angezeigt, denn sie wollen offensiv umgehen, mit den Anfeindungen und sich nicht einschüchtern lassen.

Weitere Informationen
Am Gebäude des Ministeriums für Wissenschaft und Kultur und Hannover ist die Projektion einer von den Nazis zerstörten Synagoge zu sehen. © NDR Foto: Christian Janke

Niedersachsen gedenkt der Opfer der Novemberpogrome

In Hannover gab es eine Projektion der abgebrannten Neuen Synagoge. Daniel Libeskind hielt eine Rede in der Leuphana Uni. mehr

Erinnerungskultur muss selbstverständlich bleiben

Sie wünschen sich mehr Rückenwind aus Politik und Gesellschaft und ein klares Bekenntnis zur Bedeutung ihrer Arbeit.

"Diese politische Entwicklung in Deutschland macht uns aktuell Sorge, weil wir nicht sicher sind, das es weiterhin selbstverständlich ist, dass in dieser Form Erinnerungsarbeit und Gedenkarbeit in Deutschland geleistet wird", sagt Stefanie Billib. Die Erinnerung an NS-Verbrechen müsse weiterhin eine Selbstverständlichkeit sein.

Und ihr Kollege Oliver von Wrochem pflichtet ihr bei: "Es braucht auf jeden Fall die Einsicht in die Notwendigkeit, dass die Auseinandersetzung mit Rassismus, Gewalt, Antiziganismus, Antisemitismus und überhaupt Ausgrenzungsideologien aller Art eben kein Thema der Vergangenheit ist."

Weitere Informationen
Die Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover Rebecca Seidler sitzt in einer Synagoge. © dpa-Bildfunk Foto: Julian Stratenschulte

Vorsitzende Jüdischer Gemeinde Hannover: "Nie wieder ist jetzt"

Rebecca Seidler erwartet konkrete Taten von der Politik, um Antisemitismus zu stoppen - und Schutz durch die Zivilgesellschaft. mehr

Ulrich Kühn © NDR Foto: Christian Spielmann

Nachgedacht: Antisemitismus ist niemals diskutabel

Seit Tagen ist offensichtlich, dass es in Deutschland manifesten Antisemitismus gibt. Manche sagen, das sei nicht so neu. Ulrich Kühn fragt dennoch: Wie kann das sein? mehr

Eine Zeichnung von Zsuzsa Merényi © picture alliance / Robert B. Fishman Foto: picture alliance / Robert B. Fishman | Robert B. Fishman

KZ Bergen-Belsen: Kunst als Selbstbehauptung und Dokumentation

Kunst, die in Konzentrationslagern geschaffen wurde, hat vielen Häftlingen Hoffnung gegeben. Ein Gespräch. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 09.11.2023 | 06:50 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

NS-Zeit

Hände halten ein Smartphone auf dem der News-Channel von NDR Kultur zusehen ist © NDR.de

WhatsApp-Channel von NDR Kultur: So funktioniert's

Die Kultur Top-News aus Norddeutschland direkt aufs Smartphone: NDR Kultur ist bei WhatsApp mit einem eigenen Kanal aktiv. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur sucht Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Menschen in silbernen Anzügen stehen auf einer Bühne, in der Mitte die Buchstaben WTF © Sinje Hasheider

Trump, Hassrede, AfD: "WTF?!" am Lübecker Theater

Gegen Spaltung und für mehr Kommunikation: Malte Lachmann bringt Streitthemen und Lösungsvorschläge auf die Bühne. mehr