"Zuhören": Bernhard Pörksen lauscht nach den leisen Tönen
"Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen" heißt das neue Buch von Bernhard Pörksen. Der Medienwissenschaftler zählt zu den bekanntesten Kritikern und Beobachtern der Medien und hat schon mit vielen Veröffentlichungen für Diskussionen gesorgt.
Zehn Jahre hat Bernhard Pörksen an diesem Buch gearbeitet. Es ist keine wissenschaftliche Analyse, sondern eine durch eigene Erfahrung ausgelöste Spurensuche: Im Jahr 2007 stieß er bei einem Besuch in seinem Elternhaus auf ein Buch des Reformpädagogen Hartmut von Hentig, der darin nur in den höchsten Tönen über Gerold Becker, den früheren Leiter der später in die Schlagzeilen geratenen Odenwaldschule schrieb. Pörksen stutzte, recherchierte und stellte fest: Es gab Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs. Und: Becker sei ein Päderast.
"Zuhören": Eine kleine Schule der Wahrnehmung
Er fragte im Bekanntenkreis nach. "Das Interessante war für mich, dass es eine ganze Menge an hingehauchten Appellen gab: Mensch, jetzt lass mal los, ist doch eklig, so ein Thema, Missbrauch, solche Leute - das geht doch gar nicht. Zur Wahrheit gehört: ich habe es dann tatsächlich fallen lassen", sagt Pörksen.
Er hat erst dann wieder hingehört, als die öffentliche Diskussion um Becker und die Odenwaldschule 2010 einsetzte, die bis dahin ungehörten Stimmen Gehör verschaffen konnte. Pörksen wollte verstehen, wann wir hinhören, weghören und dann - wie er - doch wieder hinhören. Beispiel Ukraine-Krieg: Warum schenken wir dem Geschehen dort kaum noch Aufmerksamkeit? Oder: Warum wird die Klimakrise weitgehend verdrängt oder gar negiert? Teilweise über Jahre hat sich der Medienwissenschaftler deshalb immer wieder mit denselben Menschen getroffen, mit ihnen über ihre Versuche, gehört zu werden, gesprochen.
"Rezepte" wolle er jedoch auf gar keinen Fall anbieten: "Aushalten können, dass man selbst nicht genau Bescheid weiß; von der Unsicherheit her beginnen, nicht von der Antwort, die scheinbar für alle gilt, und die es dann doch nicht geben kann; das Ganze idealerweise als eine kleine Schule der Wahrnehmung anzulegen, die, wenn es gut läuft, ein paar Leute interessiert."
Bernhard Pörksen über das gelingende Gehörtwerden
Doch sollte dieses Buch mehr als "ein paar Leute" interessieren. Man folgt Pörksen gern auf seinen kenntnisreichen Zuhör-Expeditionen. Gewohnt eloquent erzählt er Geschichten: über den ukrainischen Gastronomen und Unternehmer Misha Katsurin und dessen Versuche, den in Russland lebenden Vater zu bewegen, ihm zuzuhören; über James Hansen, der bereits 1988 feststellt, dass der Treibhauseffekt erwiesen ist - auch er wurde nicht gehört.
Der Bewegung "Fridays für Future" erging es zunächst anders. Pörksen erklärt das unter anderem damit, dass neue Konstellationen entstanden waren. "Der neunjährige Elias hat beim Frühstück gesagt: Liebe Großeltern, warum müsst ihr denn zum Golfen nach Südafrika fliegen? Auf einmal war da ein Mensch, den die Großeltern liebten und respektierten, zu dem sie die Beziehung unbedingt erhalten wollten und der eine unangenehme Botschaft auf andere Weise überbringen durfte. Das Prinzip des vertrauenswürdigen Botschafters ist ein ganz entscheidendes, wenn wir über das gelingende Gehörtwerden sprechen."
Den leisen Tönen nachlauschen
Natürlich beschäftigt sich Bernhard Pörksen auch mit der fortschreitenden Digitalisierung und der gigantischen Entwicklung der sozialen Medien, so dass es immer schwieriger wurde, Aufmerksamkeit und Gehör zu finden. Er hat Menschen im Silicon Valley befragt, die einst die ersten sozialen Netzwerke gründeten, damals noch streng kuratiert, mit einem festen Abonnenten-Stamm. "Wir müssen uns um Gottes Willen nicht in die digitale Steinzeit zurück bomben", erklärt Pörksen. "Der Informationsreichtum der digitalen Welt ist ein ungeheures Geschenk, aber in der gegenwärtigen Situation haben ganz wenige ganz viel Macht und verkaufen ihre Userinnen und User meistbietend an die Werbeindustrie und versteigern ihre Datenprofile. Die Situation ist unerträglich."
Offen sein, vor allem den leisen Tönen nachlauschen, Menschen wahrnehmen: Das ist die zentrale Botschaft dieser Recherche - wenn überhaupt von einer Botschaft gesprochen werden kann. Pörksen formuliert vorsichtig. Er erzählt und versucht, zu begreifen. Die Erkenntnis, dass das "Nachlauschen" am besten in kleinem Rahmen gelingt, ist kein Widerspruch zu seinem Ansatz, auch auf das große Ganze zu schauen. Insofern lässt sich viel mitnehmen aus dieser Recherche über "Die Kunst, sich der Welt zu öffnen" - nicht zuletzt, dass auch die Kunst daran Anteil haben kann, weil sie oft überraschende Perspektiven eröffnet. "1964 schreibt Joseph Beuys, der Künstlerschamane, in einem Katalog: 'Beuys empfiehlt Erhöhung der Berliner Mauer - um fünf Zentimeter - bessere Proportion.' Man wird diese Provokation nicht so leicht wieder los, weil man merkt, dass dahinter ein Wahrnehmungsprogramm der produktiven Verstörung steht, die einen öffnet und die einem eigene Blickverengungen vor Augen führt", sagt Pörksen.
Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen
- Seitenzahl:
- 336 Seiten
- Genre:
- Sachbuch
- Verlag:
- Hanser Literaturverlage
- Veröffentlichungsdatum:
- 28.01.2025
- Preis:
- 24 €