Mit den Ohren sehen: Wie Blinde die Welt erleben
Das Zuhören hat für blinde Menschen eine viel stärkere Bedeutung als für Sehende. Zwei Blinde berichten aus ihrem Alltag mit Konzertbesuchen und Kneipen-Gesprächen, Vorlese-Apps und Audiodeskriptionen.
Die große, weite Welt öffnete sich für Udo Holtmann durch das Radio. Mittlerweile ist er 65. Als Kind hörte er abends deutsche Sendungen aus dem Ausland - Ländern wie Italien, Frankreich oder der Tschechoslowakei. "Es war im August und ich hörte Radio Prag", erinnert sich Holtmann. "Und ohne, dass ich im Einzelnen als Kind wirklich die Hintergründe begriff, merkte ich, dass der Ton in dem, was da gesagt und übertragen und erzählt wurde, sich innerhalb von 24 Stunden geändert hatte. Das war der Tag, an dem der Prager Frühling niedergeschlagen und dementsprechend auch die Radiostation besetzt wurde."
"Bei nicht sauber gestimmten Instrumenten zucke ich schmerzhaft"
1968 hatte er durch Zuhören ein Stück Weltgeschichte mitbekommen. Die Sehenden sammeln Bilder, er sammelt Tonaufnahmen. Vor allem, wenn er verreist. Seine zweite große Leidenschaft ist die Musik. Er singt und spielt Klavier. Ein Konzertbesuch kann für ihn aber auch eine Qual sein: "Nicht sauber gestimmte Instrumente, da zucke ich wirklich schmerzhaft. Und das passiert öfter, als man glaubt. Immer dann, stelle ich fest, wenn sich die Leute im letzten Augenblick nicht genügend Zeit nehmen oder meinen, im letzten Moment müssten sie hektisch noch mal etwas nachstimmen."
Zuhören ist bei Musik umso schöner, wenn alle Instrumente gut gestimmt sind. Holtmann mag besonders Konzerte, bei denen die Musiker an verschiedenen Stellen im Raum stehen - wie bei dem Renaissance-Komponisten Orlando di Lasso.
Alltag ohne Lippenlesen
Musik zu hören ist einfacher, als gesprochenen Worten zu folgen. Eine laute Umgebung erschwert das Verstehen. Fast unmöglich wird das Zuhören in einer Kneipe. "Wenn die alle um uns rum brabbeln, liest du dann vieles deinen Gesprächspartnern von den Lippen ab - nicht bewusst, sondern unbewusst", erklärt Holtmann. Das heißt, du kombinierst dein Hören mit dem Sehen. Das kann ich nicht."
So ein Durcheinander kennt Bente Hüttmann aus parallelen Gruppenarbeiten an der Uni. Die 25-Jährige studiert Bildungs- und Erziehungswissenschaften und ist selbst ebenfalls seit ihrer Geburt blind. Sehende haben eine Körpersprache des Zuhörens. "Als ich ein Kind war, ist mir beigebracht worden, dass man die Menschen anguckt, wenn man mit ihnen spricht", erzählt Hüttmann.
"Tatort" mit Audiodeskription: "Rennende Beine auf dem Asphalt"
Ihre stahlblauen Augen dreht sie in die Richtung des Gehörten - allein für Ihr Gegenüber. Denn Zuhören, das kann sie sogar aus dem Nachbarzimmer bei angelehnter Tür. Aus ihrer Kindheit erzählt sie: "Ich bin ein bedingungsloser Harry-Potter-Fan. Einmal sagte jemand im Nebenzimmer: 'Heute Abend gibt's Harry Potter.' Ich meinte dann: 'Oh! Das muss ich heute gucken.' Dann hieß es: 'Das sollte sie doch gar nicht mitbekommen!'"
Blinde können Filme genauso genießen wie Sehende, dank Audiodeskription. Auf einer zusätzlichen Tonspur beschreibt eine Person, was in der Szene zu sehen, aber nicht zu hören ist. Beim Intro zum "Tatort" sagt diese etwa: "Rennende Beine auf dem Asphalt. Weiße Linien formieren sich zu einem Fingerabdruck." Hüttmann liebt Filme mit Audiodeskription. Die seien fast wie Hörbücher.
Vorlese-Apps mit hohen Geschwindigkeiten
Hören ist für blinde Menschen natürlich auch wichtig beim Bedienen von Computern oder Smartphones. "Auf dem iPhone habe ich ein Sprachprogramm namens Voice Over", erklärt Hüttmann. "Es liest mir alles vor, was auf dem Display zu sehen ist." Wie schnell die Stimme spricht, kann man einstellen. Viele Blinde nutzen sehr hohe Geschwindigkeiten. Hüttmann demonstriert, wie schnell sie ihre Whatsapp-Nachrichten abhört. Und erläutert: "Auch am Laptop gibt es diese Vorlesefunktion. Wenn ich mir auch noch Notizen mache, dann nutze ich die einfache Geschwindigkeit, damit ich gut zuhören und mich darauf konzentrieren kann."
Zuhören und Verstehen bei hoher Geschwindigkeit - Udo Holtmann erinnert sich an Studien aus den 80er-Jahren in den USA. Er selbst hat daran mitgearbeitet. Aufgenommene Texte wurden schneller abgespult. Zuhören und verstehen, das war noch möglich bei bis zu 500-600 Wörter pro Minute. Die normale Lesegeschwindigkeit liegt bei 150 Wörtern pro Minute. Die Geschwindigkeit der Vorlese-Apps ist häufig höher. "Ich habe das Gefühl, das macht auch etwas mit mir", so Holtmann. "Das Zuhören strengt mich dann mehr an. Andererseits ist es schwierig für mich, wenn Texte so in normaler Geschwindigkeit ablaufen, dem zu folgen. Es sei denn, da hat jemand sehr ästhetisch gesprochen."
Zuhören überall: Bei Filmen, Smartphones, digitalen Texten. Wenn Blinde keine Lust mehr haben, zuzuhören, dann nehmen sie sich ein stilles Buch und lesen mit ihren Fingern in Braille-Schrift.