Medienkompetenz: Journalismus in der Pflicht
Polemik, Bashing, Shitstorms: Die öffentliche Diskussionskultur in Deutschland scheint aus den Fugen zu geraten. Aber was, wenn das nicht in erster Linie an den Diskutierenden, sondern vielmehr an den Bedingungen liegt, unter denen in Medien und der Öffentlichkeit diskutiert wird?
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen spricht in diesem Zusammenhang im Gespräch mit ZAPP von "einer Art Zweiteilung der Medienwelt: Es gibt diejenigen, die sich seriösem Journalismus zuwenden. Gerade in Zeiten von Corona hat der eine bedeutende Funktion. Aber es gibt diejenigen, die sich vor allem über Social Media informieren."
Wettbewerb um die größte Polarisierung
Soziale Medien sind inzwischen einer der zentralen Orte für öffentliche Diskussionen. Auf Facebook, Twitter oder Instagram wird geliked, geshared und gestritten - aber selten eine Einigung erzielt. Polarisierende Inhalte werden durch Algorithmen mehr belohnt als differenzierte Argumentation. So werden die Diskussionen im Netz zu einem Wettbewerb um die steilste These. Und nicht selten um den verletzendsten Kommentar.
Für die Plattformen bedeutet die Polarisierung: höhere Verweildauer, höhere Werbeeinnahmen. Doch für die Nutzerinnen und Nutzer bedeutet es ein niedrigeres Diskussionsniveau: "Es ist vielleicht einfach leichter, persönlich zu werden als inhaltlich zu diskutieren", vermutet Bernhard Pörksen. "Es geht schnell und leicht, die Person sofort abzuwerten. Es ruiniert aber das Gesprächsklima. Das ist das Garantierezept, um einen Dialog zu zerstören. Der andere ist in jedem Fall gekränkt."
Auch in politischen Talkshows wird unter den Augen von Millionen gestritten. Auch hier ist die Pointierung Trumpf, das wissen die Redaktionen. Zuspitzen, abkürzen, vereinfachen – das ist seit jeher das Kerngeschäft des Journalismus. Doch aus Zuspitzung wird nicht selten Überspitzung. Pörksen gibt zu bedenken: "Es gibt die Spektakel-Polarisierung. Da ist die Zuspitzung eigentlich unsinnig, hat keinen Erkenntniswert. Und es gibt die Zuspitzung, die auf den Erkenntniseffekt zielt, um etwas klar herauszuarbeiten. Wir haben eine kommunikative Klimaveränderung in Richtung der Übertreibung, des Superlativs: Quoten, Echtzeitquoten in den sozialen Medien, Klicks und Likes. Der seriöse Journalismus muss zurücktreten und sich fragen: Will man da mitspielen oder nicht und um welchen Preis?"
Virale Fake News
So befeuert das Coronavirus auch die Fake News. Offenbar so sehr, dass nun mehr als 80 Prozent der Deutschen in einer Forsa-Umfrage angeben, im Internet auf Desinformationen zum Virus oder den Corona-Maßnahmen gestoßen zu sein. Über die Sozialen Medien erreichen die Deutschen besonders viele Desinformationen. Gleichzeitig sind Online-Medien inklusive Social Media für mittlerweile 68 Prozent der Deutschen eine wichtige Nachrichtenquelle. Nur das Fernsehen wurde von 72 Prozent knapp als noch wichtiger für Nachrichten bewertet.
Wenn wir täglich über Postings scrollen, Meldungen lesen, können wir dann überhaupt noch unterscheiden, was echt ist, und was nicht? Das wollten wir in einer kleinen, nicht-repräsentativen Umfrage herausfinden. Zunächst haben wir zufällig ausgewählten Passanten einen sogenannten Whatsapp-Kettenbrief gezeigt. Fast alle der befragten Passanten hielten diesen für nicht glaubwürdig und Whatsapp für keine zuverlässige Quelle. Eine Frau räumte jedoch ein: "Ich habe auch schonmal Fake-News geteilt und hinterher geschrieben: 'Es tut mir furchtbar leid, das war Fake.'" Sie habe diese Nachrichten von Freunden erhalten - und daher zunächst ungefragt geglaubt und weitergeleitet.
Vielen fehlt die Quellenkompetenz
Für Prof. Pörksen ein typisches Beispiel: "Es zeigt, dass etwas fehlt: Quellenkompetenz. Wir wissen aus Untersuchungen, dass 50 Prozent der Menschen nicht auf die Quelle achten. Hier ist eine wichtige Medienbildungslücke. Quellenkompetenz entscheidet über die Möglichkeit, Informationen als vertrauenswürdig oder nicht einzuordnen. Damit kann man Quatsch von hart recherchierten Nachrichten unterscheiden."
Noch erschreckender scheint, dass ein zufälliges Posting auf Facebook, das sogar von der Plattform selbst als "Fake News" deklariert worden ist, von fast allen Passanten zunächst als glaubwürdig erachtet wurde. Je stärker die eigene Meinung mit dem Inhalt der falschen Nachricht korrespondierte, desto eher waren die Menschen offenbar bereit, die Desinformation zu glauben.
Insgesamt ließen sich von mehr als 20 Befragten gut zwei Drittel auf den ersten Blick von Fake News oder Manipulationen täuschen. Nur ein Drittel zeigt sich von vorneherein skeptisch - und kritisch. Eine repräsentative Auswertung ist das nicht. Aber ein Indiz dafür, dass bei der Medienkompetenz noch nachgebessert werden könnte.
Journalismus muss sich erklären
Dieser Befund wird von der Wissenschaft gestützt: Die Medienkompetenz müsse laut Prof. Pörksen schon in der Schule ausgebildet werden. Pörksen sieht auch das jüngste Youtube-Video von Rezo als Gewinn: "Dieser Film ist eine Art Lehrstunde der Medienkompetenz", so Pörksen. "Er plädiert für Fehlertransparenz und dafür, sich mit den Mechanismen des Journalismus auseinanderzusetzen. Im Kern ist das Video eine in Kritik verpackte Liebeserklärung an seriösen Journalismus."
Bei Erwachsenen sei der Journalismus selbst in der Pflicht: "Was ist eine glaubwürdige, relevante, veröffentlichungsreife Information? Das hat früher nur Journalistinnen und Journalisten interessiert, geht heute aber jeden an. Hier muss man immer wieder erklären, wie wird gearbeitet, wie wird recherchiert, was ist das Zwei-Quellen-Prinzip. Wie härtet man eine Information, was hat man richtig gemacht und was nicht. Wir haben eine große Medien-Bildungslücke in der Gesellschaft. Wenn der Journalismus sich erklärt, leistet er einen Beitrag zur Medienmündigkeit."