Bilanz: Ein Jahr Relotius
Clemens Höges ist seit 29 Jahren beim "Spiegel". Erst war er Reporter und Korrespondent in Deutschland, in Krisenregionen und in den USA, dann Ressortleiter. Mittlerweile ist er Mitglied der Chefredaktion. Höges will aus der Not eine Tugend machen. "Ich wäre eigentlich froh, wenn die Affäre 'Relotius' nicht verschwinden würde, sondern wenn sie uns, aber durchaus auch Kollegen in anderen Häusern immer sagt, was passieren kann", erklärt der Journalist gegenüber ZAPP. Man müsse noch mal zehn Prozent gründlicher arbeiten als man es vielleicht für nötig halte. "Relotius - ich glaube, das wird nicht schnell verschwinden. Und das ist gut so."
Der "Spiegel" hat ein Jahr Schmach, Krisenkommunikation und Aufarbeitung hinter sich. Kurz vor Weihnachten 2018 veröffentlichte das Nachrichtenmagazin mit "Sagen, was ist" einen Titel in eigener Sache: Es ging um den eigenen Reporter Claas Relotius, der immer wieder Reportagen, Portraits und Interviews ge- und verfälscht oder aus anderen Artikeln abgeschrieben hatte. Eine interne Arbeitsgruppe arbeitete die Umstände schonungslos auf. Arbeitsgruppen haben neue Standards entworfen. Herausgekommen sind zirka 75 Seiten. Dieser Tage sollen sie erscheinen.
Sicherungsmaßnahmen nach Relotius
"Da sind diverse Sicherungsmaßnahmen drin", erklärt Höges, der anfangs selbst der Aufklärungskommission angehörte. Die neuen Standards würden "ein ziemlich breites Werk". Zwar hätten er und seine Kolleginnen und Kollegen vieles davon schon früher im Kopf gehabt und auch danach gearbeitet. "Aber wir schreiben das fest, damit auch allen hier im Hause klar ist, wie wir arbeiten, und damit auch unseren Lesern klar ist, wie wir arbeiten." Die Redaktion wolle sich Vertrauen zurückverdienen. "Wir werben darum, weil die Affäre Relotius natürlich einige Leute enttäuscht hat."
Tatsächlich hat sich auch in anderen Häusern viel getan - Relotius hatte immerhin auch für den "Zeit"-Verlag und andere Magazine und auch Zeitungen gearbeitet, dazu kamen weitere, kleinere journalistische Täuscher und Fälscher. "Das Urvertrauen ist weg", sagt "Zeit"-Reporter Stephan Lebert. "Das Urvertrauen, dass Reporter wo hingehen und aufschreiben, was sie sehen." Bei der "Zeit" seien Redakteurinnen und Redakteure im Faktenchecken geschult worden. "Wenn Geschichten zu glatt oder zu sensationell werden, dann sagt man irgendwie: Frag mal nach!" Felix Dachsel, der die deutsche Redaktion des Onlineportals "Vice" leitet, nimmt inzwischen gezielt Abstand von einzelnen Texten: "Auslandsgeschichten lehnt man vielleicht eher ab, weil das Risiko, dass man es nicht überprüfen kann, zu hoch ist - was eine traurige Konsequenz ist."
Die "Süddeutsche Zeitung" arbeitet wiederum an einer speziellen Datenbank: Reporterinnen und Reporter sollen Mitschnitte, Dokumente und Fotos hochladen, um der Redaktion das Nachprüfen zu erleichtern. Auch der "Spiegel" will nun noch konsequenter Belege für Recherchen sehen. Bei Autorinnen und Autoren kommt das mitunter zu heftig an. So berichtet die Vorsitzende der Berufsvereinigung Freischreiber, Carola Dorner, sie habe sich früher "immer sehr gefreut", wenn mal ein Faktenchecker angerufen habe, um Flüchtigkeitsfehler zu vermeiden, die jedem passieren könnten. "Aber jetzt hat das schon eher was von Inquisition."
Was bleibt ein Jahr nach der Affäre?
Viele Medien, vor allem aber der "Spiegel" haben im vergangenen Jahr einiges geändert. Das Gesellschaftsressort, in dem Relotius einst isoliert vom Rest des Hauses arbeiten konnte, wurde aufgebrochen: Es ist nicht mehr nur ein einziger Faktenchecker für die Texte dieser Reporterinnen und Reporter zuständig, sondern die gut 70 Köpfe starke Dokumentation. Außerdem muss das in "Reporter" umbenannte Ressort nun mit anderen zusammenarbeiten. Auch das soll einen zweiten Relotius verhindern.
Gleichwohl quält vor allem die Journalistinnen und Journalisten beim "Spiegel" noch immer eine Frage zu Relotius, auch Co-Chefredakteur Clemens Höges. "Warum musste er fälschen? Oder warum glaube er, fälschen zu müssen? Warum?", so Höges. Relotius selbst habe sich bislang geweigert, mit der Aufklärungskommission ausführlich zu sprechen und dabei auch seine Motivation zu erklären. Seine Anwälte lassen immer wieder durchblicken: Relotius sei krank und noch selbst mit der Verarbeitung seines Tuns beschäftigt. Seine "große Schuld" hat er allerdings grundsätzlich eingeräumt.
Höges schüttelt etwa mit dem Kopf, wenn er an die Möglichkeiten denkt, die der "Spiegel" seinem Reporter Relotius gegeben hat: Tage und teils Wochen lange Reisen in Krisenregionen, in die USA und etwa als Zuarbeit für einen Titel über die Klimakrise auch auf die Südseeinsel Kiribati - von der er vermeintliche Eindrücke lieferte, auf der er laut Prüfung im "Spiegel" wohl aber nie angekommen war. "Ein Journalist, der mal eben nach Kiribati fliegen und dort eine Reportage schreiben kann, warum erfindet man das dann?", sagt Höges. "Warum? Ich verstehe es nicht."