Nach Relotius: Reporter hinterfragen sich
Das Leben ist kein Hollywoodstreifen. Nur selten funkelt und glitzert es. Und Menschen haben viele Facetten - oft zu viele für eine glatte Geschichte. Reporter müssen von den komplizierten, alltäglichen Gegebenheiten berichten. Möglichst so, dass viele Menschen sie lesen wollen.
Größer als das Leben selbst
Die Geschichten, die der inzwischen entlassene "Spiegel"-Reporters Claas Relotius zu Papier gebracht hat, haben nicht nur viele Menschen gern gelesen - Jurys haben sie sogar ausgezeichnet. Allerdings waren sie zu großen Teilen erfunden. "Relotius ist ein Einzelfall", sagt Annette Ramelsberger, Reporterin und Redakteurin bei der "Süddeutschen Zeitung". Und doch gebe es "diese Versuchung, aus einer guten Geschichte eine noch bessere zu machen. Eine Geschichte, die 'larger than life' ist. Größer als die Wirklichkeit."
Diese Versuchung existiert offenbar nicht nur bei Reportern. "Ich habe schon mit Redaktionen zusammengearbeitet, die sich Geschichten mit Protagonisten am Reißbrett ausgedacht haben", erzählt die freie Journalistin Verena Carl. "Wie ein Malbuch, das sie dem Reporter hinlegen und sagen: 'So, jetzt mal das aus!'" Carl schreibt seit vielen Jahren für verschiedene Zeitschriften und hat einige, wie sie sagt, "absurde Erfahrungen" gemacht.
Absurde Erfahrungen
Auch Robert Goldmann ist Freiberufler. Der Fall Relotius hat den 35-Jährigen über Erfahrungen nachdenken lassen, die er im Journalismus gemacht hat. Ein Beispiel: Einmal habe er ein Interview an die bearbeitende Redakteurin geschickt. Als er es zurückbekam, hatte ihm die Redakteurin eine erfundene Antwort in sein Interview redigiert - eine Antwort, die sein Interviewpartner gar nicht gegeben hatte.
"Mein Eindruck war", so Goldmann, "dass es für sie eigentlich keine besondere Situation war. Sie hat mir das so ganz selbstverständlich mit den anderen Korrekturanmerkungen geschickt, als ob es das normalste der Welt wäre, eine erfundene Antwort in ein Interview zu redigieren." Die Antwort wäre zwar im Sinne des Interviewpartners gewesen. Goldmann setzte der Redakteurin gegenüber trotzdem durch, dass sie gestrichen wurde. Da dies nicht sein einziges Erlebnis mit Schummeleien war, rief er auf Twitter auch andere Reporter dazu auf, von entsprechenden Erfahrungen zu berichten.
#SagenWasIst
Und das taten einige: Unter dem Hashtag #SagenWasIst schrieben Journalisten von Redaktionen, die von ihren Reportern unzulässige Zuspitzungen verlangten, sogar Explosionen erfinden wollten. Manche Reporter berichten auch von eigenen Verfehlungen. Mittlerweile allerdings haben politische Aktivisten den Hashtag gekapert, um unter diesem Stichwort den Journalismus insgesamt in Misskredit zu bringen. Medienschaffende selbst stellen sich zumindest eine Frage: Ist das Genre der Reportage - mit ihren schönen Worten und ihren manchmal weit von der Heimat entfernten Spielorten - für Fälschungen und Tricksereien besonders anfällig?
Auch Henning Sußebach ist Reporter - fest angestellt bei der "Zeit". Er fände es falsch, die Reportage insgesamt unter Generalverdacht zu stellen: "Im Fall Relotius hat die Reportage da versagt, wo sie eine Konferenztisch-Meinung belegen wollte", sagt Sußebach. Zwar sei Relotius nicht mit dem Auftrag losgeschickt worden: "Finde mal bekloppte Trump-Wähler. Aber irgendwie war das ja 'common sense', dass das gesucht wird."
Der Fall Relotius bestärkt Sußebach in seiner Haltung. Die lautet: Reporter müssen gerade die Schattierungen von scheinbar schnöden Alltagsgeschichten herausarbeiten, sie müssen Widersprüche aufschreiben. Doch dafür, so weiß der Reporter, braucht es Zeit - und ein entsprechendes Budget. Nicht jede Redaktion verfügt darüber. Relotius jedoch hatte diesen Luxus beim "Spiegel". Was die Realität hergab, war ihm offenbar nicht genug. Ein krasser Verstoß gegen den wohl wichtigsten Grundsatz im Journalismus: das Streben nach Wahrhaftigkeit.
"Zum Zweifeln verdammt"
"Journalisten sind Diener an der Gemeinschaft", sagt Annette Ramelsberger von der "Süddeutschen Zeitung". "Wir müssen der Sache dienen, und nicht dem eigenen Ruhm. Wir müssen gucken, was falsch läuft in der Gesellschaft, und das aufschreiben. Wir sind zum Zweifeln verdammt. Und zum Zweifeln auch an uns selbst." Was sie aber nicht findet: Dass sich Journalisten bei der Zusammenarbeit nun grundsätzlich gegenseitig misstrauen sollten. Vertrauen sei wichtig unter Kollegen, sagt sie. Gerade Redaktionen, die sich - anders als der "Spiegel" - keine teure Dokumentationsabteilung leisten können, seien darauf angewiesen.
Doch Vertrauen alleine reicht nicht. Ramelsberger sagt: "Man sollte Zufallsstichproben machen. Dass man immer wieder fragt: War es so? Und gibt es dafür ein Dokument? Haben Sie eine Aufnahme davon gemacht, von diesem Gespräch? Einfach so. Und nicht so als Misstrauensbeweis gegenüber dem Kollegen."
Die Reportage als Darstellungsform halten alle Journalisten, mit denen wir gesprochen haben, für unverzichtbar. Schließlich sei eine gute - und wahrhaftige - Reportage wie ein Fenster zur Wirklichkeit. "Ein Bericht, der Ereignisse festhält und dokumentiert" - so sagt es der Duden. Und einer, der im besten Fall auch noch schön geschrieben ist.