Stand: 20.12.2018 13:20 Uhr

Der Fall Relotius: Was ändert sich beim "Spiegel"?

von Daniel Bouhs & Andrej Reisin

Knapp 60 Geschichten des Reporters Claas Relotius sind mit einem Betrugsverdacht belegt: Was der "Spiegel" in eigener Sache enthüllt hat, wiegt für das Magazin besonders schwer, denn: Der "Spiegel" rühmt sich damit, mehr denn je darauf zu achten, dass wirklich alles stimmt. So hieß es in einem Image-Film zu seinem 70. Geburtstag als Versprechen an die Leserinnen und Leser: "Sagen, was ist. Ein Augstein-Zitat, das heut noch gilt. Und damit das so bleibt, gibt es beim 'Spiegel' eine ganze Abteilung - die Dokumentation. 70 Personen überprüfen Fakten, korrigieren Schreibweisen und suchen Fehler."

Doch im Fall Relotius hat auch die "Dok", wie die Abteilung intern heißt, jahrelang nichts gemerkt. Dabei hat die Abteilung tatsächlich den Anspruch penibel zu arbeiten, wie ZAPP bei einem Besuch für einen Beitrag über Fact-Checking in den deutschen Medien selbst erleben konnte: Bevor der Text eines "Spiegel"-Journalisten ins Heft wandert, beugt sich mindestens ein Dokumentar drüber. Er streicht jedes einzelne Wort ab. Fakten versucht er bei anderen Quellen gegenzuprüfen. Das kann Stunden, manchmal aber sogar Tage lang dauern. Oft löst das Änderungen in den Texten aus. Manchmal erscheinen sie anschließend sogar gar nicht, weil sie in sich zusammenfallen. In der "Dok" ist die Rede davon, Dokumentare seien "die natürlichen Feinde" der klassischen Redakteure.

VIDEO: Faktencheck in den Medien (7 Min)

Gegen Betrug hilft kein Faktencheck

Dass aber auch intensives Fact-Checking an Grenzen stößt, zeigt der Fall Relotius. Während die Dokumentare bei investigativen Geschichten Unterlagen oder Studien prüfen können, sammelt ein Reporter vor allem eigene Eindrücke ein. Er zieht mit seinem Block los und kommt mit Notizen wieder. "Das heißt, es gibt eigentlich nur den einen Zeugen, den Protagonisten selber und den Reporter", sagt Klusmann. Der Dokumentar müsse "ein Stück weit darauf vertrauen, dass der Kollege, der Reporter, ihm da keinen Mist erzählt und nicht irgendwas vormacht, nicht irgendwas erfindet".

Wie gewissenhaft wurde wirklich geprüft?

Der Journalist Claas Relotius bei einer Preisverleihung. © picture alliance/Eventpress Golejewski Foto: Eventpress Golejewski
Der 33-jährige Journalist Claas Relotius hat unter anderem für "Spiegel", "Welt", "taz" und "Zeit-Online" gearbeitet.

Allerdings sind mittlerweile auch Zweifel an der Akribie der "Dok" laut geworden: Im März 2017 veröffentlichte "Der Spiegel" eine Reportage von Relotius über Fergus Falls, eine Kleinstadt im US-Bundesstaat Minnesota. Seit gestern kann man im Online-Portal "Medium" nachlesen, was zwei Einwohner dieser Stadt davon halten. Minutiös listen sie die nach ihrer Darstellung elf größten Fehler bzw. Erfindungen in Relotius‘ Text auf. Diese negative "Top Eleven" hat es im Hinblick auf die Selbstdarstellung des Magazins in sich: Natürlich ist niemand davor gefeit , wenn ein Reporter sich einen Stahlarbeiter oder einen Restaurantbesitzer einfach ausdenkt, doch bei weitem nicht alle falsch dargestellten Sachverhalte entziehen sich der Überprüfung durch die "Dok".

So zum Beispiel ein Ortsschild, auf dem angeblich "Welcome to Fergus Falls - Home of damn good folks" ("Heimat verdammt guter Leute") steht. Das Schild gibt es nicht, das echte wäre aber bei Google Street View zu finden gewesen. Und ein Kleinstadt-Kino, das seit Jahren denselben Film zeigt? Wie plausibel ist das angesichts der Verleih-Politik der Hollywood-Studios, die ihre neuesten Blockbuster pushen wollen? Die Spielpläne findet man mit einer Online-Suche. Auch der Blick aus dem "Viking Café", aus dem man angeblich ein zwei Meilen entferntes Kraftwerk sehen kann, hätte sich mithilfe von Kartentools aus dem Netz schnell als unmöglich erwiesen. Natürlich ist man hinterher immer schlauer, aber die "Dok" behauptete stets (auch gegenüber ZAPP), gerade solche Details stünden im Fokus ihrer Aufmerksamkeit. Zumindest hier scheint es anders gewesen zu sein.

Neue Sicherungsmechanismen geplant

Das neue Haus des Spiegel-Verlags in der Hamburger Hafencity. © picture-alliance/dpa Foto: Bodo Marks
"Positives Misstrauen": Beim "Spiegel" wird man bei der Qualitätssicherung neue Wege gehen.

Das "Aufklärungs-Team", das Chefredaktion und Geschäftsführung für den Fall "Relotius" einrichten, soll nun weitere Sicherungsmechanismen einführen. Dokumentare, die Reportagen betreuen, sollen häufiger rotieren, damit sich mit Routine nicht auch Nachlässigkeit einspielt, etwa weil man die Reporter, die man betreut, zu gut kennt und ihnen so vielleicht auch zu viel vertraut. Klusmann will mit diesem "Durchtauschen" der Dokumentare das "positive Misstrauen" stärken, wie er selbst sagt.

Ein Modell, das im Verlagssitz an der Hamburger Ericusspitze ebenfalls im Gespräch ist: Mit Reportern sollen zwingend auch Fotografen ausrücken, damit Vor-Ort-Recherchen und Treffen mit Protagonisten dokumentiert werden. Auch ein ausgiebiger "Selfiejournalismus" ist im Gespräch, also Reporter, die ihre eigenen Bewegungen dokumentieren. Doch hier stehen auch praktische Erwägungen dagegen: Wie soll das etwa in Krisenregionen funktionieren, wenn es bei Recherchen auch um die Sicherheit der Gesprächspartner geht und jeder weitere Mitarbeiter - zumal mit Objektiv in der Hand - die Aufmerksamkeit etwa von Kämpfern auf sich ziehen würde?

Klusmann will "Generalverdacht" abwenden

Dem neuen "Spiegel"-Chefredakteur, der sich gleich zu Beginn als Krisenmanager beweisen muss, ist bei dem Thema jedenfalls deutliches Unbehagen anzumerken. "Nach allem, was wir bisher wissen, geht es um einen genialistischen Einzeltäter, der uns da betrogen hat", sagte Klusmann dem NDR. "Deswegen müssen wir jetzt ein bisschen aufpassen, dass wir jetzt von dem nicht ableiten auf den Rest der großen Redaktion und so tun, als würden hier nur so Leute arbeiten." Dass der Betrug nur aufgrund der "Genialität" des Betrügers funktioniert hat, klingt angesichts der Richtigstellungen aus Fergus Falls allerdings auch ein bisschen wie negative Heldenverklärung.

Klusmann jedenfalls will den Eindruck vermeiden, die Chefredaktion hege nun einen Generalverdacht gegen all seine Reporter. Für das Arbeitsklima im Verlag wäre ein Generalverdacht jedenfalls ein Gift, das wohl auch auf die journalistische Kraft des Magazins erhebliche Auswirkungen hätte. Im "Spiegel" geht es nun offensichtlich mehr denn je um eine Gratwanderung zwischen journalistischer Sicherheit und redaktionellem Vertrauen - auch im Zusammenspiel mit "Dok".

Dieses Thema im Programm:

ZAPP | 09.01.2019 | 23:20 Uhr

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