Abschluss der Relotius-Affäre: Schwächen im System
Knapp 60 Texte hatte Claas Relotius für "Spiegel" und "Spiegel Online" geschrieben, bevor ein Kollege misstrauisch wurde und die Fälschungsserie auffliegen ließ. Etwa ein Dutzend davon gilt für das Haus nach intensiven Prüfungen nun als "hart verfälscht", wie Chefredakteur Steffen Klusmann ZAPP am Rande der Vorstellung des Abschlussberichts im Fall "Relotius" (PDF) sagte. "Aber die anderen sind auch so verfälscht, dass der größte Teil von ihnen am Ende journalistisch wertlos ist."
Der Imageschaden für den "Spiegel" ist zweifellos groß. Bei Rechtspopulisten hat mit der Affäre das Schlagwort "Relotiuspresse" die bisherige "Lügenpresse" abgelöst. Relotius hat auch für andere Medien geschrieben, doch vor allem für das Hamburger Nachrichtenmagazin. Klagt der Verlag jetzt gegen ihn? Bei der Präsentation des Abschlussberichts erzählt Geschäftsführer Thomas Hass, es seien "Möglichkeiten" geprüft worden. Allein: Man habe sich aus "Fürsorgepflichten" entschieden, nicht gegen den früheren Mitarbeiter Claas Relotius vorzugehen. Man habe aber "gewährleistet, dass wir die maximale Aufklärung betreiben".
Das besondere Problem "Gesellschaftsressort"
Brigitte Fehrle, früher Chefredakteurin der "Berliner Zeitung", war Teil der dreiköpfigen Prüfgruppe. Sie sieht auch ein strukturelles Problem: Relotius habe im speziellen Ressort "Gesellschaft" gearbeitet, das darauf aus war, möglichst viele Journalistenpreise einzufahren. "Die außergewöhnliche Geschichte, die außergewöhnlichen Protagonisten - das ist das, was im Grunde Standard ist in dem Ressort", sagte Fehrle gegenüber ZAPP. "Und das kann man natürlich besser leisten, wenn man sich nicht so sehr um die Fakten kümmert."
Bei der Präsentation sagte sie, "schockiert" habe sie in ihrer fünfmonatigen Arbeit vor allem der Umgang mit Juan Moreno, Relotius' Kollegen, der misstrauisch wurde und die Affäre so aufdeckte - allerdings war er zunächst auf Widerstände gestoßen. "Als wir das recherchiert haben, habe ich manchmal geschluckt", sagte Fehrle. "Ich habe gedacht: Warum ist das eigentlich so, dass einem Mitarbeiter, der ja nun auch schon seit sieben Jahren beim 'Spiegel' ist, dass ihm so wenig Glauben geschenkt wurde, dass er über so viele Wochen hinweg gegen Wände laufen musste? Also das fand' ich schon ziemlich einzigartig."
Zufallsgenerator, Selfies und Tonaufnahmen als Lösung?
Auch Chefredakteur Klusmann, dem die Affäre zu Beginn seiner Zeit beim "Spiegel" auf die Füße fiel, zeigt sich in diesem Punkt schwer erschüttert. "Ehrlich gesagt: Ich fürchte, das ist nicht zu erklären", sagte er auf die Frage, warum zunächst Relotius geglaubt worden sei und nicht Moreno. Relotius selbst schweigt seit Ende 2018 zu seiner Affäre. Sein Anwalt teilte ZAPP mit, sein Mandant sei auch "nicht in der Lage", sich zum nun vorliegenden Abschlussbericht des "Spiegel" zu äußern.
Fehrle und ihre Kollegen machen dem "Spiegel" im Abschlussbericht etliche Vorschläge, wie sich die Redaktion vor etwaigen weiteren Fälschern schützen kann. Eine Möglichkeit sei ein Zufallsgenerator, der Woche für Woche einen Text benennt, der besonders intensiv geprüft werde. Reporter sollten dann Audioaufnahmen ihrer Gespräche vorlegen und auch Fotos, die sie künftig immer zusammen mit ihren Gesprächspartnern machen sollten. Außerdem solle es eine Ombudsstelle geben, die offen für interne Whistleblower sei.
Klusmann: "So etwas bleibt immer irgendwie hängen"
Chefredakteur Klusmann erklärte, fast alle Vorschläge seien so gut, dass er sie umsetzen wolle. Konkret wurde er bei dieser Ankündigung aber nicht. Er ließ außerdem offen, ob das laut Fehrle von Journalistenpreisen getriebene Gesellschaftsressort verändert oder gar aufgelöst werden soll. Auch über mögliche personelle Konsequenzen wollte Klusmann lieber nicht vor Medienjournalisten reden.
Die Redaktion hofft auf neues Vertrauen seiner Leserinnen und Leser. Dafür hat der "Spiegel" den Abschlussbericht online veröffentlicht. Er erscheint auch in der gedruckten Ausgabe. Ist der Abschlussbericht auch ein Schlussstrich? "So etwas bleibt, glaube ich, immer irgendwie hängen", sagte Klusmann zu ZAPP. "Und da wird man auch in vielen, vielen Jahren noch drauf angesprochen. Fehler werden wir weiter machen. Die Frage ist, wie wir damit umgehen."