Buch-Cover: Emmanuel Carrère - V 13. Die Terroranschläge von Paris © Matthes & Seitz Verlag

"V13. Die Terroranschläge von Paris": Reportage vom Jahrhundertprozess

Stand: 03.08.2023 06:00 Uhr

Fast zehn Monate lang ging Emmanuel Carrère jeden Tag zum Gerichtssaal, um vom Prozess zu den Anschlägen vom 13. November 2015 zu berichten. Nun ist ein Buch daraus entstanden: hochspannend, erschütternd und erhellend zugleich.

von Judith Heitkamp

Am 13. November 2015 wüteten islamistische Attentäter in Paris im Musikclub Bataclan, auf Restaurantterrassen des 11. Arrondissements, auch vor dem Stade de France, in dem an diesem Abend Frankreich gegen Deutschland spielte. Der Prozess gegen die überlebenden Mittäter, bei dem auch hunderte Opfer-Angehörige und Verletzte zu Wort kamen, fand zwischen September 2021 bis Juni 2022 statt. Im eigens erbauten Gerichtssaal saß auch der Schriftsteller Emmanuel Carrère, der wöchentlich für das Nachrichtenmagazin "L’Obs" über die Verhandlung schrieb und später ein Buch veröffentlichte, das nun auf Deutsch erscheint: "V13. Die Terroranschläge von Paris". Die Abkürzung für diesen französischen "Jahrhundertprozess" steht für "Vendredi treize" - Freitag, den 13.

Eine Mammutaufgabe: Emmanuel Carrère erzählt vom Prozess

130 Tote, 1.800 Nebenkläger, fast zehn Monate Prozessdauer, 542 Bände Ermittlungsakten, 378 Seiten Anklageschrift, auf der Anklagebank Helfer, die nicht die eigentlichen Mörder sind, denn die haben sich alle in die Luft gesprengt. Was für eine Mammutaufgabe, diesen Prozess zu führen - und was für eine Mammutaufgabe, diesen Prozess zu erzählen!

Am Anfang habe er das Ganze vor allem für ein enormes Werbeunternehmen für Justiz und Demokratie gehalten, sagt Emmanuel Carrère beim Sender France Inter, aber es sei viel mehr als das gewesen; eine Gemeinschaft entstand - schrecklich, es zu sagen: Es sei auch schön gewesen, und bewegend.

"V13": Mischung aus Reportage und Essay

Also ging er, der Schriftsteller, der sich nicht als Journalist sieht, diese fast zehn Monate lang jeden Tag in die sogenannte weiße Kiste, die im Pariser Palais de Justice extra für den Prozess zu den Anschlägen vom 13. November 2015 erbaut wurde. Er bekam Alpträume und manchmal brach er zuhause in Tränen aus - das erwähnt er schon. Aber während es in vielen anderen Büchern von Carrère vor allem um Carrère geht, ist "V13" kein Selbsterfahrungsbuch; und das wäre ja auch völlig unangemessen. Trotzdem ist die Mischung aus Reportage und Essay sehr persönlich, wenn er etwa beschreibt, wie er in Beziehungen zu manchen Angehörigen hineinwächst, wie er der Logik der Attentäter nachgeht, die sich im Krieg mit Frankreich sehen, wie er sich mit der schwierigen Rolle der Anwälte der Verteidigung auseinandersetzt. Immer elegant, oft smart, manchmal sarkastisch, manchmal pathetisch schreibt Carrère und erzeugt einen Lesesog, dem man sich kaum entziehen kann.

Es ist der 13. Tag, der den Überlebenden und den Opfern aus dem Bataclan gewidmet ist, fünf weitere stehen noch aus. Wir haben fast 200 Zeugenaussagen gehört. 80 Nebenkläger sind in den letzten Wochen noch dazugekommen, sie stehen auf einer Warteliste und müssen irgendwann auch noch angehört werden. Wir sind am Ende. Zuviel Leid, zuviel Horror. Leseprobe

Dagegen scheinen andere Verhandlungstage, die den Angeklagten gewidmet sind, viel banaler und praktischer. Manchmal - sogar das - tatsächlich komisch. Nach dem Beruf fragt der Vorsitzende Richter - Antwort: "Kämpfer des Islamischen Staates". Vorsitzender: "Bei mir steht Zeitarbeiter."

Die Opfer stehen an erster Stelle

Welcher Attentäter reiste über welche Route ein, wer mietete Wagen und Wohnungen, wieso entschieden sich zwei aus dem ursprünglichen Todeskommando um? Ist es gerecht, die Höchststrafe zu verhängen für einen, der hätte morden sollen, es aber dann nicht tat? Die klassische Frage nach der Gerechtigkeit des Urteils wird in diesem Buch ein bisschen gestreift, aber wirklich wichtig ist sie dem Autor nicht. An erster Stelle sollen, anders als in vielen anderen Gerichtsreportagen, die Opfer stehen - nicht die Täter. Die zahllosen juristischen Details werden Nicht-Fachleuten bald wieder entfallen. Aber Emmanuel Carrères Text - der mit 270 Seiten übrigens überschaubar lang ist - bildet in Frankreich schon jetzt die Grundlage für die gemeinsame große Erzählung des großen Prozesses, die französische Antwort auf die Katastrophe der Anschläge. In Claudia Hamms bewährter und feinsinniger Übersetzung für deutsche Leser und Leserinnen hochspannend, erschütternd und erhellend zugleich.

V13. Die Terroranschläge von Paris

von Emmanuel Carrère
Seitenzahl:
275 Seiten
Genre:
Roman
Zusatzinfo:
Aus dem Französischen von Claudia Hamm
Verlag:
Matthes & Seitz
Bestellnummer:
978-3-7518-0942-9
Preis:
25 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 03.08.2023 | 12:40 Uhr

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