Schnee, Schmerz, Alptraum: "Unmöglicher Abschied" von Han Kang
"Unmöglicher Abschied", der neue Roman der südkoreanischen Literaturnobelpreisträgerin 2024 Han Kang, erzählt von der Freundschaft zwischen zwei Frauen und von der gewaltvollen koreanischen Geschichte.
Eine perfekte Schneeflocke, eine mit Kraft ins Papier gedrückte Handschrift, die Zartheit eines Vogelkadavers, leicht und weich - wichtig in der Welt, wichtig in diesem Buch, das gleichzeitig die größten Schrecken beinhaltet.
In einem Porträt des Schwedischen Fernsehens in Zusammenarbeit mit der Nobelstiftung erzählt Han Kang von einem Schneetraum, den sie hatte und in "Unmöglicher Abschied" verwendet. Ein Traum über Erinnerung, Trauer, Zeit, die Toten und die Lebenden. Manche Träume beeinflussten sie mehr als reale Erfahrungen, sagt sie.
Han Kang erzählt von unsäglicher Gewalt
Nach einer etwas suizidalen Vorgeschichte ergibt sich eine irrwitzige Mission: Die Ich-Erzählerin Gyeongha ist auf Bitte ihrer Freundin Inseon, die nach einem Unfall im Krankenhaus liegt, von Seoul auf die Insel Jeju geflogen, mitten im Schneesturm. Zu Fuß kämpft sie sich zu einem abgelegenen Haus durch - weil sie dort einen weißen Vogel füttern soll. Aber irrwitzig oder angemessen, surreal oder irrational - das sind keine Kategorien für Han Kangs Frauenfiguren, die tun, was sie tun müssen, folgen ihren inneren Stimmen. Immer stärker schiebt die gewaltvolle Geschichte Südkoreas sich in den Vordergrund der Handlung - 30.000 Menschen wurden 1948 auf Jeju nach einem lokalen Aufstand brutal umgebracht, auch Angehörige von Inseon. Angesichts der Grausamkeit, zu der Menschen fähig sind - welchen Sinn machen Worte wie "Irrwitz" oder "Vernunft"?
Bei ihrem Welterfolg "Die Vegetarierin" sei es um Zurückweisen von Gewalt gegangen, so Han Kang. Sie habe gedacht, dass Pflanzen ohne Gewalt auskämen - aber tatsächlich zeige die Natur, dass auch Pflanzen manchmal Kämpfe ausfechten. Ähnlich suggestiv und teils alptraumhaft wie "Die Vegetarierin" schließt "Unmöglicher Abschied" auch an den Roman "Menschenwerk" an. Er thematisierte das Massaker von Gwangju von 1980, wo die südkoreanische Militärregierung die Demokratiebewegung grausam niederschlagen ließ. Han Kangs Romane selbst sind nicht dokumentarisch, aber sie erzählen von der Mühe und dem Schmerz der Spurensuche, von den Kladden mit den vielen Post-its darin. Nicht von Revolution, von stiller, hartnäckiger Aufmerksamkeit.
Mit jeder Seite, die ich raschelnd umdrehe, tauchen Knochen im Kerzenlicht auf. Ich sehe Schädel, fotografiert im Profil oder frontal mit Augenhöhlen und Nasenöffnungen, Oberschenkelknochen und Schienbeine. Leseprobe
"Unmöglicher Abschied": Eine eindringliche Lese-Erfahrung
Die Handlung verschwimmt immer mehr zwischen den Realitäten, Orten, Zeiten und Personen. Auch möglich, dass alles nur ein schlimmer Traum ist, angestoßen von einer viel schlimmeren Wirklichkeit. Eindeutig ist hier fast nichts - außer der Gewalt.
Han Kangs Roman "Unmöglicher Abschied" ist also eigentlich - eine Zumutung. Sanft zieht er sein Publikum in Schnee und Schmerz und Alptraum. Aber er ist auch eine eindringliche Lese-Erfahrung; gleichzeitig möchte man sich entziehen und weiterlesen. Eine irrwitzige Welt, in der ein weißer Vogel eine Rettung sein kann.
Unmöglicher Abschied
- Seitenzahl:
- 315 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee
- Verlag:
- Aufbau
- Bestellnummer:
- 978-3-351-04184-7
- Preis:
- 24 €