"Ein jüdischer Garten": Textpassagen über jüdische Identität
Der Band "Ein jüdischer Garten" besteht aus Gedichten, Textauszügen, Erzählungen und Briefen aus der jüdischen Diaspora. Manche Passagen stehen für sich, andere machen neugierig auf mehr.
Die Texte wurden in unterschiedlichen Epochen, Ländern und Sprachen verfasst und sollen ein Gefühl für "jüdische Erfahrungen und jüdisches Ethos" vermitteln. In allen Texten kommen Pflanzen vor. Sie durchwachsen dieses Buch, angefangen bei der Akazie bis hin zur Zypresse.
Ein Garten aus Buchstabengestrüpp
Ein schnörkelloser Garten ist das. Keine Illustrationen rankender Gewächse oder blühender Blumen. Einzig weiße Seiten mit Worten und Sätzen. Schade, eigentlich. Doch, wer sich in das Buchstabengestrüpp hineinwagt, spürt nach und nach, wie sie wachsen.
Die Sonne wechselte die Farben,
Der Mond machte selbst die Ältesten verliebt,
Die Tomaten erröteten vor Glück, als sie dich vorbeigehen sahen.
Leseprobe
Ein Gedicht der Menschenrechtsaktivistin Marjorie Agosín, 1955 in den USA geboren, Tochter chilenischer Migranten. Eine Fürsprecherin für die "Ethik des Judentums und den Kampfgeist für soziale Gerechtigkeit", wie sie sagt.
Ein paar Jahre später, ich war wohl schon siebzehn, habe ich das erste Mal in meinem Leben mit einem Mädchen gelegen, unter einem Baum. Diesmal war es eine Buche, gut fünfzehn Meter hoch, (…) und ein Wildschwein hat uns gestört. (…) Und wieder ein paar Jahre später ist meine Frau Chana unter einem Baum erschossen worden. Ich kann nicht sagen, was es diesmal für einer war, ich bin nicht dabeigesessen, man hat es mir nur erzählt, und ich habe vergessen, nach dem Baum zu fragen. Leseprobe
Ein kleiner Auszug aus "Jakob der Lügner" von Jurek Becker. Sein Leben begann mit einer Lüge, die ihn vor dem Tod retten sollte: Jurek Beckers Vater hatte im Ghetto von Łódź über das Alter des Kindes gelogen, um es vor der Deportation zu bewahren.
"Ein jüdischer Garten" liefert spannende biografischen Fakten
Der Band versammelt Textfetzen von Autorinnen und Autoren - mal berühmt, mal unbekannt. Manche Passagen stehen für sich, andere machen neugierig auf mehr. Einige lassen die Leserin etwas ratlos zurück. Nicht immer funktioniert der kleine Wort-Happen, um sich ein Bild vom großen Ganzen zu machen.
Durchgängig spannend zu lesen sind die biografischen Fakten. Erfrischend viele erzählen von meinungsstarken, fast vergessenen Frauen, wie etwa von Elissa Rhais, einer jüdisch-algerischen Schriftstellerin:
Die zweimal jüdisch verheiratete und geschiedene Betreiberin eines literarischen Salons in Algier wird in Frankreich als eine aus einem Harem geflüchtete Muslimin vermarktet. Leseprobe
Ein Gefühl für jüdische Lebensrealitäten
In diesem Spannungsbogen von realem Leben und literarischem Werk entfalten sich Themenfelder, die die Geschichte jüdischer Menschen prägten und prägen: Es geht um Heimatlosigkeit, Flucht und Neuanfang, um Traditionen, enge Freundschaften, Gerechtigkeit oder argwöhnische Blicke. Ganz oft geht es um das Niederreißen sprachlicher Grenzen, das Zusammenführen. Und von der Freude an kleinen, scheinbar unbedeutenden Dingen, vom Wunsch, für den anderen da zu sein - auch davon lesen wir:
Mutter hockte mit einer Plastikschüssel zwischen den Knien auf der Türschwelle und schälte Klementinen. (…) Sie waren unglaublich saftig, und ihre süßen, fleischigen Schnitze zergingen auf der Zunge. Ich futterte begierig ein Stück nach dem anderen, zur Freude meiner Mutter, die sich beeilte, immer mehr davon zu schälen. Leseprobe
"Klementinenschnitze" aus Ayman Siksecks Roman "Reise nach Jerusalem".
Die ausgewählten Textpassagen erzeugen tatsächlich ein Gefühl für jüdische Lebensrealitäten. Nichts, was festgefahren wäre - alles bleibt in Bewegung, wächst immer noch weiter, erneuert sich - auch hier passt das Bild des Gartens.
Ein jüdischer Garten
- Seitenzahl:
- 304 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Hanser
- Bestellnummer:
- 978-3-446-27468-6
- Preis:
- 28 €