"Dringende Durchsage": Unveröffentlichte Erzählungen von Siegfried Lenz
Pünktlich zu Siegfried Lenz' zehnten Todestag am 7. Oktober ist eine Sammlung neuer Geschichten erschienen. Die allermeisten von ihnen sind noch nie abgedruckt worden.
Es sind einsame Gestalten, die bei Siegfried Lenz die Seiten bevölkern. Ein Schuljunge im leeren Bus, ein Häftling, der die Freiheit nicht erträgt, ein Kriegsheimkehrer am zugigen Bahnsteig. Er geistert durch Kriegsruinen. Später bauen zwei Männer ihr zerstörtes Haus wieder auf, bleiben seltsam gesichtslos. Sie tragen Namen wie Stabreime, Godicke und Giese. Ein paar Seiten weiter, und wir blicken in den trostlos-kalten Alltag einer reichen Familie der 50er-Jahre: Sätze wie Holzspäne.
Reinhold Schmelz hat keine Leidenschaften, keine Hobbys, keine sonderlichen Engagements: Er hat die Betten- und Möbelfabrik (aber die Möbelfabrik ist noch im Ausbau), und er hat Familie. Zitat aus dem buch "Dringende Durchsage. Erzählungen"
Die Protagonisten ähneln Puppen. Ihren Witz, ihre Menschlichkeit entfalten sie im Interagieren mit anderen, wenn überhaupt. Komplexe Psychogramme sind dies selten. Eher: Linolschnitte, grob geschnitzte Plots. Die Wärme eines Heinrich Böll oder Wolfgang Borchert geht den Geschichten ab. Darin besteht auch ihr spröder Reiz, es macht sie aber auch schwerfällig.
"Dringende Durchsage": Erzählungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit
Oft spielen Dinge eine größere Rolle als Menschen: zwei durchlöcherte Wehrmachtsstiefel oder das Holzschwert, mit dem ein Junge in den Nachkriegsruinen spielt, eine kindliche Waffe, die ihm der Vater sofort wegnimmt. Da wird ein Trauma spürbar.
Er zog dem Jungen ein paar über und zerbrach das Holzschwert und verbarg die Splitter wild in den Trümmerritzen, schob sie tiefer und tiefer und warf Backsteine darauf. Zitat aus "Dringende Durchsage. Erzählungen"
Entstanden sind die Erzählungen zwischen 1948 und 1957, sie stammen aus dem Lenz-Nachlass in Marbach: 23 der 34 Geschichten erscheinen zum ersten Mal. Sie sind nach Themen geordnet und erzählen von der unmittelbaren Nachkriegszeit, den Wirtschaftswunderjahren bis hin zu Geschichten, die Lenz seinen Freunden geschenkt hat, etwa Helmut Schmidt: eine interessante Fallstudie darüber, wie sich die Tochter eines Industriellen radikalisiert.
Szenen lassen Luft zum Assoziieren
Eine Geschichte zeigt, wie die namenlosen NS-Täter in der frühen BRD nur durch gegenseitige Erpressung überleben, eine Gemeinschaft des Hasses. Das liest sich beklemmend.
"Hier, du Schwein", sagte er und gab dem Langen das Geld. "Ist es nicht genug? Los, jetzt verschwinde. Was hast du denn noch?" Zitat aus "Dringende Durchsage. Erzählungen"
Besonders gelungen sind die eher surrealen Texte. In "An der Deichsel" wird ein Mann wie ein Gaul ins Geschirr einer Kutsche gelegt, versteht nicht, wie ihm geschieht. Es ist eine kafkaeske Innenansicht. Dann wieder streift ein Mann durch apokalyptische Stadtlandschaften, über die ein mysteriöser Gott herrscht, dem der Mann in einem dunklen Turmzimmer begegnet. Diese Szenen sind eingängig, weil sie Luft lassen zum Assoziieren. Weil sie von einem Vakuum erzählen, das der deutsche Vernichtungskrieg hinterlassen hat. Als wären Sinn, Poesie, Farben aus der Welt verschwunden.
Danach ging Zielke allein die endlose Treppe hinunter. Und als er auf der Straße stand, gab es außer ihm wohl niemand auf dieser Erde, der bereit gewesen wäre, diesen Gott zu lästern wie er. Zitat aus "Dringende Durchsage. Erzählungen"
Band macht Entwurzelung und seelische Zerstörung spürbar
In jeder Geschichte scheint ein Moment des Widerstands zu stecken, gegen die Spießer, gegen das Gewohnte, gegen das satte Vergessen. Allerdings: Manche der frühen Erzählungen, die er mit Ende zwanzig geschrieben hat, reichen noch nicht an die spätere Klasse heran. Manches holpert, wie der konstruierte Krimiplot "Der Fluss und der Inspektor" und die bemühten Tierfabeln über schlechtgelaunte Wellensittiche oder erpresserische Rennpferde.
Trotzdem: Dieser Band macht Entwurzelung, seelische Zerstörung spürbar. In den oft mutlosen, schwerfälligen Gesten und Handlungen einsamer Individuen zeigt Siegfried Lenz die Last der Nachkriegsjahre - und warnt vor Entmenschlichung.
Dringende Durchsage. Erzählungen
- Seitenzahl:
- 195 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Hoffmann & Campe
- Bestellnummer:
- 978-3455018233
- Preis:
- 25 €