"Alle Zeit": Teresa Bückers Sachbuch über eine neue Zeitrechnung
Teresa Bücker schaut auf eine weitere Ressource unserer Gesellschaft: auf die Zeit und auf deren ungerechte Verteilung in unserer Gesellschaft. Für ihr Buch "Alle Zeit" ist die Journalistin mit dem NDR Sachbuchpreises 2023 ausgezeichnet worden.
"Jeder Mensch hat Anspruch auf Erholung und Freizeit sowie auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit und auf periodischen, bezahlten Urlaub." Zitat aus dem Artikel 24 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
Was eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit bedeutet, darüber scheiden sich die Geister. Seit Jahrzehnten arbeiten wir uns an der Work-Life-Balance ab und auch die Debatte um die Vier-Tage-Woche köchelt seit geraumer Zeit vor sich hin, mit schwankenden Temperaturen. Die sogenannte Generation Z bringt wieder mehr Schwung in die Diskussionen.
Denn die um die Jahrtausendwende Geborenen hinterfragen die 40 Stunden-Woche und die Dominanz der Erwerbsarbeit noch lauter als die vorherigen Generationen. "Faul und fordernd" finden das manche. Nicht so Teresa Bücker: "Ich denke, es ist in der jüngeren Gruppe präsenter, weil sich auch Anforderungen im Bildungssystem verändert haben. Da herrscht mehr Druck in der Schule sowie in der Ausbildung im Studium und teilweise wird auch schon eine Überlastung wahrgenommen. Das heißt, die jungen Menschen kommen gar nicht erholt und unbelastet in der Arbeitswelt an. Sie haben vielleicht auch Eltern beobachtet, die doppelt erwerbstätig waren, die auch schon überlastet in den Urlaub fahren und grenzen sich da jetzt ab und sagen: Wir möchten anders leben als unsere Eltern."
Ursache für Zeitdruck und Zeitmangel liegt im System
Das Stigma der Faulheit lehnt Bücker ohnehin ab. Ein bisschen kürzer treten könne den allermeisten von uns nicht schaden. Dass in unserer Beschleunigungsgesellschaft Busy-Sein als immaterielle Währung, als Statussymbol gilt, das führe zu einer ungesunden Selbstausbeutung, die selbst nach "Feierabend" weitergehe. "Es reicht nicht einmal aus, die eigene Zeit möglichst vielfältig zu nutzen," sagt Brücker. "Die Klasse der Immer-Beschäftigten muss ihre Zeiten zudem 'sinnhaft' füllen. Wer die eigene Zeit ohne Vorhaben betritt, vergeudet sie. Die ideale Freizeit erfüllt nicht mit Zufriedenheit, sondern sie erfüllt kulturelle Normen."
Laut aktuellen Erhebungen leben wir heute mit einem Überfluss an freier Zeit. Wenn freie Zeit aber bedeutet, Sport zu treiben, um Schönheitsnormen zu entsprechen, ein Buch zu lesen, um mitreden zu können und zu einer Party zu gehen, um "die richtigen Leute" zu treffen, wenn jede Sekunde mit Sinn gefüllt werden muss, dann ist Freizeit keine Erholung. Dass immer mehr Menschen über Erschöpfung, Zeitdruck oder Zeitmangel klagen, wird oft auf deren überhöhte Erwartungen oder schlechtes persönliches Zeitmanagement geschoben. Bücker sieht hier kein individuelles Versagen. Die Ursache liegt für sie im System und muss auch hier gelöst werden.
Wirksame Instrumente gegen Zeitnot sind weder früheres Aufstehen noch mehr Selfcare oder Genügsamkeit, sondern umfassende politische und gesellschaftliche Veränderungen, die Zeitnot nicht kosmetisch behandeln, sondern sie an ihrer Wurzel packen. Dafür ist es notwendig, ein Recht auf genügend souverän gestaltbare Freizeit als politisches Anliegen zu identifizieren. Leseprobe
Selbstbestimmtheit hängt mit Machtfragen zusammen
Auch wenn Bücker ein gesellschaftliches Problem formuliert, sieht sie, dass Belastungen deutlich ungleich verteilt sind. Alle Menschen haben die gleichen 24 Stunden pro Tag, können aber unterschiedlich frei darüber verfügen. Der Grad der Selbstbestimmtheit hängt mit Machtfragen zusammen, etwa mit unserer Klasse und Herkunft oder unserem Geschlecht.
Hier nimmt Bücker etwa das Beispiel der "dritten Zeit". Diejenigen, die über finanziellen Wohlstand verfügen, aber unter Zeitarmut leiden, kaufen sich die Zeit von Dritten hinzu. Moderne Dienstbotinnen oder Dienstboten, die ihre Haushalts- oder Betreuungsarbeiten übernehmen - nicht selten Arbeitsmigrantinnen, zumeist unter prekären Arbeitsverhältnissen.
Diese Frauen opfern aus wirtschaftlicher Not ihre eigene Familienzeit dafür, reicheren Familien Zeit für die Befriedigung oftmals sicher weniger elementarer Bedürfnisse zu verschaffen. (…) Da die Löhne der Arbeitsmigrant*innen oft kaum existenzsichernd sind, können sie ihre Familien nicht nachholen. Leseprobe
Bücker fordert völlig neue Zeitkultur
Bücker stellt für die skizzierten Probleme verschiedene Lösungen vor: vom Care-Einkommen bis zum zeitlichen Existenzminimum. Letztlich brauche es aber einen grundsätzlichen Sinneswandel. Reformen hier und da können nur eine Übergangslösung sein, schreibt die Autorin. Was Bücker fordert, ist eine radikale Umverteilungspolitik, eine Revolution, eine völlig neue Zeitkultur.
Teresa Bücker will mit ihrem Buch vor allem Impulse geben, zum Nachdenken anregen. Und sie will viele Perspektiven integrieren, die Komplexität und die großen Zusammenhänge der zeitpolitischen Debatten aufzeigen. Das ist ein hehres Ziel, das sie im Grunde auch erreicht. Allerdings verliert das Buch auf 400 Seiten an Intensität. Etwas weniger Vollständigkeit, mehr Konzentration hätten "Alle Zeit" vielleicht noch mehr Wucht und womöglich auch noch eine breitere Leser*innenschaft verschafft. Denn ihr Grundansinnen hat das Potenzial, viele Menschen zu vereinen.
Alle Zeit
- Seitenzahl:
- 400 Seiten
- Genre:
- Sachbuch
- Verlag:
- Ullstein
- Veröffentlichungsdatum:
- 19.10.2022
- Bestellnummer:
- 9783550201721
- Preis:
- 21,99 €