"Die Erfindung von Gut und Böse": Wie Moral entstanden ist
Der Philosoph Hanno Sauer hat der Moral und ihrer Geschichte ein eigenes Buch gewidmet: "Moral - die Erfindung von Gut und Böse". Bei NDR Kultur erzählt er, wie die Moral sich historisch entwickelt hat und warum sie zum politischen Kampfbegriff geworden ist.
Kaum ein zweiter Begriff ist derzeit so heiß umkämpft wie der Begriff der Moral. Eine auf moralischen Fortschritt pochende "Wokeness"-Fraktion, so scheint es, steht Liberalen und Rechten gegenüber, die in der Aufrichtung neuer moralischer Tabus eine Bedrohung von Demokratie und Freiheit sehen. Man versteht einander nicht mehr, will es wohl auch gar nicht. Doch was ist überhaupt Moral? Wie fanden die am Überleben interessierten Menschen zu ihr? Welche Etappen hat die Entwicklung durchlaufen, seit sie vor erstaunlichen fünf Millionen Jahren begann? Der Philosoph Hanno Sauer hat darüber eine knappe halbe Stunde bei NDR Kultur gesprochen. Einen Auszug des Gesprächs lesen Sie hier. Das vollständige 30-minütige Gespräch können Sie in der ARD Audiothek oder als Podcast hören.
Warum ist Moral in den vergangenen Jahren zum politischen Kampfbegriff geworden?
Hanno Sauer: Man kann die Geschichte der Moral auch als eine Geschichte von verschiedenen Entgleisungen der Moral erzählen. Wir werden gerade Zeuge der jüngsten Entgleisung, aber das ist kein neues Phänomen. Es gibt immer wieder Krisen, die auf dem jeweils bestehenden oder erreichten Niveau gesellschaftlicher, technologischer, wirtschaftlicher oder politischer Entwicklungen neu ausgehandelt werden. Auch vor Millionen von Jahren, als wir noch in kleinen Gruppen gelebt haben, gab es auch schon Übergangskrisen und Krisen des exzessiven Moralismus. Natürlich nimmt das heute eine neue Gestalt an. Ich glaube, die Gestalt ist dadurch definiert, dass wir in unvergleichlich großen gesellschaftlichen Gruppen leben. Dass wir unter Bedingungen leben, die in vielen Bereichen auf der Welt von mehr oder weniger großer politischer Stabilität und ökonomischer Prosperität gekennzeichnet sind. Das Ganze kombiniert sich mit einer neuen informationellen Umwelt. Soziale Medien - und die politischen und sozialen Konsequenzen von Sozialen Medien. Mit der haben wir noch nicht so wirklich gelernt, umzugehen. Auch als der Buchdruck mit beweglichen Lettern erfunden worden ist, hat es erst einmal eine Zeit gedauert, bis die Leute gelernt haben, was der Stellenwert dieser neuen, überall verfügbaren Bücher ist. Aktuell müssen wir eine ganz neue Form des Kommunizierens lernen. Und das kann den Diskurs über die ohnehin schon bestehenden Probleme - von Naturkatastrophen über Pandemien bis zu kriegerischen Auseinandersetzungen - verschärfen und problematischer machen.
Ihr Buch mündet in dieser Gegenwart. Sie erzählen die Geschichte der Moral aber vom Anfang. Dieser Anfang, das ist nicht etwa die Bibel, Moralbegriffe im alten Ägypten oder im antiken Athen, sondern dieser Anfang liegt 5 Millionen Jahre zurück. Wie denn das, fragt man sich im ersten Moment.
Sauer: Das stimmt natürlich. Der Mensch als biologische Spezies ist nicht so alt, sondern wir reden da von weiter zurückliegenden Vorfahren. Ich hab diese Geschichte der Moral eingeteilt in die wesentlichen moralischen Transformationen, die die Menschheit durchgemacht hat. Das fängt vor 5 Millionen Jahren an, dann 500.000 Jahre 50.000, 5.000. 500, 50 und 5. Mit fünf Jahren sind wir dann so ungefähr in der jüngsten Gegenwart angelangt. Wenn man die Fundamente verstehen will, dann muss man eben so weit zurückgehen - und dann kann man den Rest dieser Geschichte eigentlich zu einem großen Teil als eine Geschichte anwachsender menschlicher Gesellschaften und Gruppierungen erzählen. Also wir fangen mit kleinen Gruppen an - und dann erfinden wir verschiedene Institutionen, Normen, Regeln, Werte, Praktiken und Rahmenbedingungen, die es uns erlauben, immer größere kooperative Strukturen aufzubauen. Jedes Mal ist der Übergang zur nächsten Stufe der Entwicklung auch von Krisen gezeichnet und kann zum Kollaps führen.
Irgendwann kommt ein Verständnis von Verbrechen ins Spiel und ein Gefühl für Strafe. Das ist einer dieser Meilensteine, den man erstaunliche 500.000 Jahre zurückdatieren kann. Was ist geschehen, als ein Gefühl dafür gewachsen ist, dass es so etwas wie Normüberschreitung geben kann, dass sanktioniert werden muss, dem also eine Strafe folgen sollte?
Sauer: Man muss sich vorstellen, dass der erste Schritt in der Entwicklung unserer Moral erst einmal darin bestand, dass unsere Vorfahren geografisch isoliert wurden und sich in neuen volatileren klimatischen und geografischen Bedingungen wiedergefunden haben, unter denen es sich ausgezahlt hat, besser miteinander zu kooperieren, um einander Schutz zu gewähren. Aber auch, um knappere Ressourcen zu finden und gemeinsam jagen zu können. Dieses Konzept, dass man miteinander kooperiert - auf der Basis von Verwandtschaft, Hilfeleistung und unmittelbarer Kooperation in Gruppen von vielleicht acht Individuen, die gemeinsam ein großes Tier jagen - das stößt natürlich an Grenzen. Irgendwann wird die Anzahl der Mitglieder in einer Gruppe so groß, dass die Einhaltung der Regeln des Zusammenlebens immer schwerer zu überwachen ist. Wenn man dann versuchen will, weiter zu wachsen als Gruppe, dann braucht man andere Mittel und Wege, um der Tatsache Herr zu werden, dass die beste Option für jedes Individuum immer die ist, in der alle anderen kooperativ und altruistisch sind. Man selbst aber nicht. Dieses Problem der Fragilität und des möglichen Kollapses unseres Zusammenlebens, dem muss man irgendwie beikommen. Das Strafen hat eine Doppelrolle gespielt. Je größer Gruppen werden, desto mehr Konfliktpotenziale gibt es. Deswegen lohnt es sich, wenn man es schafft, bessere Impulskontrolle zu haben, disziplinierter zu sein, domestizierter zu sein. Diesen Prozess nennt man Selbstdomestizierung. Zum nicht unerheblichen Teil haben wir das dadurch geschafft, dass wir kleine Koalition gebildet haben und die aggressivsten Tyrannen in unseren Gruppen einfach ermordet haben. Das bedeutet, dass wir die Nachkommen der Freundlichsten sind, wenn man es auf eine Formel bringen will. Die zweite Rolle, die das Strafen spielt, besteht darin, dass man die Anreizstruktur unkooperativen Verhaltens ändern muss. Es darf sich nicht mehr lohnen, dass man sich antisozial verhält oder dass man sich trittbrettfahrerartig verhält und von der Kooperation anderer profitiert, ohne einen eigenen Beitrag zu leisten.
Welche Rolle spielt menschliche Kultur für unsere Moral?
Sauer: Es ist eines meiner Hauptziele in dem Buch, zu betonen, welche absolut unverzichtbare Rolle, unsere kulturelle Entwicklung und unsere Fähigkeit zum sozialen Lernen von anderen spielt. Auch unsere Fähigkeit zur kumulativen Kultur - also zur von Generation zu Generation anwachsenden Kultur im Sinne von Wissensbeständen, Informationen, Fertigkeiten, Know-How, Institutionen und Regelsysteme. Das zeigt, dass wir unheimlich flexible Wesen sind, die in jeder Umwelt auf dem Globus zurechtkommen können. Es heißt, dass wir zu großer Vielfalt in unseren Lebensformen fähig sind. Wir können große und kleine Gesellschaften bauen, reiche und arme Gesellschaften. Wir sind kulturelle Wesen durch und durch. Das ist eine Tatsache, die indirekte durch unsere moralische Natur ermöglicht wird. Denn je besser wir durch Normen und Werte die Fähigkeit erwerben, größere Gruppen zu errichten, in denen wir leben, desto mehr kann es Arbeitsteilung geben, desto mehr kann es Innovation geben, und desto mehr können wir kooperativ an diesem geteilten kulturellen Wissensbestand arbeiten. Deswegen betone ich nicht nur die biologische Seite des Menschen als Spezies und wie unsere Moral uns als Spezies geformt hat, sondern eben auch sehr stark die kulturelle Variabilität und die kulturelle Evolution. Die Tatsache, dass wir kulturelle Wesen sind, hat letztlich zur Entstehung der Moderne und moderner Gesellschaften geführt hat.
Das Interview führte Ulrich Kühn. Das vollständige 30-minütige Gespräch können Sie in der ARD Audiothek oder als Podcast hören.