Ein Mann mit weißem Hemd und blauem Anzug lächelt in die Kamera. Es ist Professor Martin Schulze Wessel, Autor des Sachbuchs von "Fluch des Imperiums". © picture alliance/dpa | Christian Charisius Foto: Christian Charisius
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AUDIO: Neues Buch: Geschichtliche Analyse von Russlands Ukraine-Krieg (3 Min)

Martin Schulze Wessel darüber, warum Putin kein Betriebsunfall ist

Stand: 16.06.2023 16:30 Uhr

Der Osteuropa- Experte Martin Schulze Wessel spricht über sein Sachbuch "Der Fluch des Imperiums". Mit diesem hebt er sich wohltuend von den häufigen Analysen der viel zitierten "russischen Seele" ab.

Was ist los mit Russland, was ist los mit Wladimir Putin, wie konnte es so weit kommen und wo führt das hin? Diese Fragen brennen. Es mangelt nicht an allerhand sich widersprechenden Beantwortern. Der Osteuropa- Experte Martin Schulze Wessel hat seinem aufschlussreichen Buch "Der Fluch des Imperiums" den Untertitel "Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte" gegeben. Er orientiert sich an geschichtliche Fakten und erläutert im Gespräch mit historischen Hintergründen einleuchtend, warum Putin kein Betriebsunfall ist, sondern die logische Konsequenz aus dem "Fluch des Imperiums".

Was hat den Anstoß zu Ihrem Buch gegeben?

Martin Schulze Wessel: Es gab zwei Fragen, die mich vorwärts getrieben haben: Als der Krieg begann, haben wir uns in zwei Punkten in Deutschland fundamental getäuscht. Zum einen hat niemand diesen Krieg für möglich gehalten, niemand oder kaum jemand hat gedacht, dass Russland wirklich angreifen würde, und niemand hat es für möglich gehalten, dass die Ukraine sich erfolgreich verteidigt. Für mich als Historiker war die Frage: Was sind die historischen Ursachen dafür, dass Putin diesen Krieg geführt hat, und was sind die historischen Ursachen dafür, dass die Ukraine sich so erfolgreich verteidigt? Da gibt es offenbar schon eine lange Nationsgeschichte der Ukraine, die diesen Gemeinschaftssinn hervorgebracht hat.

Worin besteht der Fluch?

"Der Fluch des Imperiums" - Cover des Sachbuches von Martin Schulze Wessel © C. H. Beck
Das politische Sachbuch "Der Fluch des Imperiums" kostet 28 Euro im C.H. Beck Verlag.

Schulze Wessel: Mit dem Fluch des Imperiums will ich sagen, dass es eine Kontinuität langer Dauer gibt, die problematisch ist. Mit Fluch soll nicht gesagt werden, dass es auf ewig auf Russland lastet. Ein Fluch kann gebrochen werden. Das ist auch die Hoffnung des Buches. Der Fluch ist eine bestimmte politische Formation, die Russland sich gegeben hat: das Imperium. Dieses Imperium ist in seiner Expansion in die Ukraine, nach Polen, auch in seinen Verbindungen mit deutschen Staaten wie Preußen und der Habsburger-Monarchie problematisch geworden.

Inwiefern wirkt dieser Fluch bis heute nach?

Schulze Wessel: Der Fluch besteht darin, dass in Russland bestimmte Vorstellungen von der Aufgabe entstanden sind, die man hat. Die gesellschaftliche Aufgabe ist nicht, Demokratie zu sichern und Wohlstand zu mehren. Die Aufgabe, wie sie in der Politik, aber auch bei einem Großteil der Öffentlichkeit verstanden wird, ist, einen bestimmten Großmacht-Status zu wahren. Wenn es geht, auch zu verstärken. Darin liegt ein Fluch des Imperiums, der bis in die Gegenwart fortwirkt.

Ist das eine Idee, die von der Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen wird? Oder ist es die Idee von Putin und seiner Entourage?

Schulze Wessel: Es ist eben leider nicht nur eine Idee von Putin und seiner Entourage. Wenn man die Wahlkämpfe seit 1991 beobachtet, kann man sehen, dass Politiker immer dann erfolgreich sind, wenn sie die imperialistische Karte ziehen, wenn sie Nachbarn wie die Ukraine herabwürdigen, das hat Prämien im politischen Geschäft Russlands versprochen.
Darin liegt die gesellschaftliche Entwurzelung dieser Imperiums-Idee.

Ich war Anfang der 90er-Jahre in Moskau, hatte dort Freunde, die zur Bohème gehörten, und sicher sehr politikfern waren. Als es um die Schwarzmeer-Flotte ging, sagte einer dieser Freunde, ein Bildhauer: "Für diese Flotte leben wir doch eigentlich!" Für mich wäre es verständlich gewesen, wenn es das eigene Wohlergehen oder die Familie gewesen wäre. Aber die Flotte war etwas, wofür er lebte. Das will ich nicht generalisieren, aber es ist bezeichnend, dass so etwas gesagt werden konnte. Es hat mir damals anschaulich gemacht, wie verwurzelt Großmachtvorstellungen in der Bevölkerung sind.

Wie optimistisch sind Sie, dass der Fluch in absehbarer Zeit gebrochen wird?

Schulze Wessel: Dieser Fluch wird sicher nur dann bewältigt, wenn Russland eine Niederlage erleidet, wenn das Regime von Putin radikal delegitimiert wird. Ich halte nicht für unwahrscheinlich, dass genau dies eintritt. Dann wird es zwei Möglichkeiten geben: eine Radikalisierung dieser imperialistischen Idee oder eine Neubesinnung darauf, dass ein anderer Weg für die Russinnen zuträglicher wäre. Ein Weg, der auf die vielen Ressourcen setzt, die Russland hat. Das ist ein großes Land, Rohstoffreich, mit einer intelligenten Bevölkerung, mit Wissenschaft. Daraus könnte man etwas machen.

Sind Sie optimistisch?

Schulze Wessel: Ich halte es für möglich. Man muss auch positive Bilder in einer schwierigen Zeit entwerfen können. Denn nur mit der Kraft der Utopie ist so ein Weg überhaupt möglich. Der muss natürlich in Russland gegangen werden. Aber wir dürfen in unserer Vorstellung nicht diesen Weg kategorial ausschließen.

Die Ukraine darf auch nicht mehr als post-sowjetischer Staat gedacht werden, sondern als ein erweitertes Mediterraneum, ein Staat mit großartigen Potentialen. Von dem Austausch werden wir erheblich profitieren können. In solche Richtungen muss man denken können, die natürlich nicht morgen und im Falle von Russland auch nicht übermorgen vorliegen werden.

Zurück ins 18. Jahrhundert: Wie hat sich das russische Imperium formiert?

Schulze Wessel: Man darf sich die Geschichte nicht so vorstellen, dass Peter I. einen Masterplan hatte, ein großes Imperium aufzubauen, das dann vielleicht sogar noch bis heute führt. Peter hat einen Angriffskrieg geführt, hat die heutigen baltischen Staaten erobert, St. Petersburg gegründet und "das Fenster nach Europa geöffnet".

Der russische Zar Peter I., genannt Peter der Große, zeitgenössische Darstellung. © picture-alliance / dpa
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Das ist aber nur die halbe Geschichte. Die andere Hälfte der Geschichte ist, dass Russland damals hegemonial geworden ist. Auch damals schon gegenüber Polen und der Ukraine, und dass sich daraus in der längeren Perspektive nicht nur eine negative Geschichte im russisch-polnischen und russisch-ukrainischen Verhältnis ergeben hat, sondern auch eine Ost-West-Spaltung, die man tatsächlich schon im 18. Jahrhundert beobachten kann. England war im nordischen Krieg der diplomatische Gegenspieler, und da entsteht dieser Ost-West-Gegensatz, der im 18. Jahrhundert allerdings noch nicht ideologisch, sondern diplomatisch und militärisch war.

Es gab noch keine Selbstbilder. Die entstanden im 19. Jahrhundert, aber auf der Grundlage der russischen Mächtepolitik. Nachdem Russland Polen geteilt hatte, hat es sich selbst den Weg zu Nationalstaatlichkeit und Demokratie verbaut. Es entstand der weltpolitische Gegensatz zwischen den Mächten in Westeuropa, die Demokratie und Nationalstaatlichkeit für sich beanspruchten, obwohl sie gleichzeitig auch Imperien waren, und den Imperien im Osten Europas, Russland, Preußen, der Habsburger Monarchie, die ihren Teil Europas imperialstaatlich und eben auch möglichst nicht demokratisch, weiter organisieren wollten.

Wieso hat sich Russland durch die Teilung Polens den Weg zur Demokratie verbaut?

Schulze Wessel: Nach dem Teilen Polens wurde Russland, genauso wie Preußen und die Habsburger Monarchie, zu einer Macht, die an der Erhaltung des Status quo interessiert war. Es ging im 19. Jahrhundert darum, die Polen daran zu hindern, ihre Vorstellung von polnischer Geschichte, ihre Vorstellung von Demokratie und Nationalstaat zu verhindern. Damit begab sich Russland auf einen Weg, der höchst problematisch war, der gegen Demokratie, gesellschaftliche Emanzipation, gegen Nationalstaatlichkeit und Demokratie war. Das, was im 18. und 19. Jahrhundert die polnische Frage für Russland war, wurde im 20. und 21. Jahrhundert die ukrainische Frage.

Und worin bestand die?

Schulze Wessel: Die ukrainische Frage war, dass es von der ukrainischen Nationalbewegung nicht akzeptiert wurde, von Russland aus beherrscht zu werden. Und dass dafür zunehmend eine internationale Öffentlichkeit gewonnen wurde. Am deutlichsten sieht man das in der Gegenwart, wo Präsident Selenskij an die europäischen Öffentlichkeiten, aber auch global appelliert, um seinen Forderungen gegen Russland Nachdruck zu verleihen. Dieser Mechanismus, dass man sich von einem beherrschten Staat aus an die Weltöffentlichkeit wendet, ist einer, den es seit dem 19. Jahrhundert gibt.

Im 19. Jahrhundert entsteht das russische Selbstbild in scharfer Abgrenzung vom Westen. Welche Faktoren spielen bei der Entstehung eine Rolle?

Schulze Wessel: Am Besten geht man dafür in das Jahr 1830/31 zurück, zum Polnischen Aufstand, der Russland tatsächlich fundamental herausforderte. Damals hat der russische Nationaldichter Puschkin ein anti-polnisches, aber gleichzeitig auch anti-europäisches Gedicht geschrieben, mit dem Titel: "An die Verleumder Russlands!" Diese Verleumder saßen in Europa, er wandte sich an die, diese Auseinandersetzung zwischen Russland und Polen nicht als "Familienangelegenheit", sondern als europäische Angelegenheit auffassen. Sein Denkmuster, das dann sehr wirkungsvoll geworden ist, war, dass es eine tief angelegte Russenfeindschaft in Westeuropa gebe. Die zweite Vorstellung war, dass Polen nur ein verlängerter Arm des Westens ist, also dass Polen keine eigene historische Würde zukommt, sondern nur als 5. Kolonne des Westens agiert. Genau dieses Argumentationsmuster kann man heute in Bezug auf die Ukraine sehen.  

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Bedingen sich außenpolitische und innenpolitische Entwicklungen und das russische Selbstbild gegenseitig?

Schulze Wessel:  Es gibt einen Zusammenhang zwischen Mächtepolitik und den imperialen Ideen, die als Antwort darauf entstehen. Diese imperialen Ideen haben dann wieder Wirkung auf die Außenpolitik selbst. Dass Putin sich für diesen Krieg entschieden hat, hat nicht in erster Linie wirtschaftliche Gründe. Er will auch nicht in erster Linie seine Herrschaft absichern, sondern er folgt einer bestimmten imperialen Idee. Er ist gewissermaßen Agent einer Vorstellung, ist gefangen in einer Vorstellung, die lange vor ihm entstanden ist.

Gefangen klingt fast bedauernswert …

Schulze Wessel: Er ist der einzige Verantwortliche und als solcher gehört er vor einen Strafgerichtshof. Man bleibt politisch verantwortlich, auch wenn man in Diskursen handelt, die vor einem schon angelegt worden sind.  

Diese Imperiums-Idee - "wir sind auserwählt, wir sind ein Imperium, der Westen ist unser Feind" - warum hat die sich so lange gehalten?

Schulze Wessel: Weil sie sich festgefressen hat. Sie ist über einen bestimmten mächtepolitischen Weg entstanden, den Russland betreten hat. Als man merkte, in Sackgassen zu gehen, hat man ideologische Antworten gefunden. Diese haben Russland in seinem Weg bestärkt. 

Sie sprechen von der Ideologie als einer zweiten Wirklichkeit, in der sich die russische Elite und auch Gesellschaft bewegen…

Schulze Wessel: Wenn man mit unserem Blick auf Russland schaut, würde man nach "rational-choice"-Motiven suchen. Man würde sich fragen, wie kann Putin seine Situation verbessern und was sind die logischen Schritte dafür?

Damit kann man den Krieg nicht erklären. Dieser Krieg ist nach vernünftigen Annahmen völlig unsinnig. Deswegen muss man fragen: Welche ideologischen Wirklichkeiten gibt es in Russland, die es möglich gemacht haben, einen auch für Russland fatalen Krieg zu führen? Ein Krieg, der die Nachbarschaft zerstören wird? Ein Krieg, der die Soft Power, die Russland in Europa und besonders in Deutschland hatte? Ein Krieg, der unendliches Leid auch über die Soldaten Russlands gebracht hat - mit an die 200.000 Toten? Das alles kann man mit "rational choice" und bloßen Irrtümern nicht erklären.

Sie beschreiben auch den Blick Deutschlands auf das Land, der letztlich zu dieser fatalen Fehleinschätzung geführt hat. Vielleicht setzen wir nochmal mit dem Beginn der Sowjetunion an. Was hat da den deutschen Blick geprägt?

Schulze Wessel: Der deutsche Blick zeichnet sich einmal dadurch aus, dass er Polen und die Ukraine lange ignoriert hat. Man hat sich in diesem bilateralen Verhältnis mit Russland gefallen. Vielfach spielt auch Anti-Amerikanismus eine Rolle. Oder eine negative Einstellung gegenüber dem Westen überhaupt. Sicherlich auch Russland-Romantik. Man wollte sich Russland als eine Alternative offenhalten.

Wenn man an die letzten Jahre, an Nord-Stream 2 denkt, gab es bei vielen wirtschaftlichen und politischen Eliten Gewinninteresse. Das deutsch-russische Verhältnis ist dadurch aber noch nicht ausreichend charakterisiert. In meinem Buch spreche ich davon, dass Deutschland, das seine eigene imperiale Vergangenheit aufgearbeitet hat, in Russland sozusagen eine sekundäre imperialen Attitüde entwickelt hat. Man schaut in einer imperialen Art und Weise durch die russischen Augen auf die Nachbarländer. Wir haben sehr lange gar nicht direkt auf die Ukraine geschaut, sondern den russischen Blick übernommen. Auch das muss aufgearbeitet und überwunden werden.

Das Gespräch führte "ttt"-Autor Lennart Herberhold. Das Buch war nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis 2023.

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Das Erste | Dokus im Ersten | 11.06.2023 | 23:00 Uhr

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