Wilhelm Genazino: Der Traum des Beobachters
Wilhelm Genazino ist sein Leben lang durch die Straßen getrottet, hat dabei eigentlich gar nichts Großes erlebt und doch auf diese Weise einen wunderbaren Roman nach dem anderen zuwege gebracht. Nun wäre er 80 Jahre alt geworden.
Jedem sollte man das Glück des Scheiterns gönnen, sagte Wilhelm Genazino. Weil er seine Figuren liebte, war er da sehr freigiebig: Er erzählte von Menschen - meist Männern zwischen 45 und 60 -, die sich, um gleich mal einige der unvergesslichen Genazinismen zu zitieren, dem "Zwangsabonnement der Wirklichkeit" ausgesetzt sehen und von einem "gewaltigen Seltsamkeitsgefühl" geplagt werden.
"Die haben an sich kein wirkliches Problem, sondern nur ein Randproblem, nämlich die Empfindung, dass sie nicht vollständig sind", erklärt der Schriftsteller. "Zwischendurch sacken sie ein bisschen ab in ihrer Empfindung, und dann entstehen diese toten Phasen, in denen dann das Leben still zu stehen scheint."
Tote Winkel beleben
Da hilft dann nur noch ein Mittel - Wilhelm Genazino brachte es zur literarischen Patentreife: die Belebung der toten Winkel. Er ließ seine Figuren mit der Bereitschaft, auch im winzigen Detail das Unglaubliche zu sehen, durch die Straßen der Großstadt - meist seiner Wahlheimat Frankfurt - streifen: Mit Hilfe des gedehnten Blicks entstehen Glücksverkettungen, er hat es ja selbst seit seiner Kindheit immer wieder erlebt.
"Ich war ein großer Rumtreiber. Ich lief einfach in die Stadt und hab' Bilder angeschaut und Verkehrsunfälle beobachtet und so, nichtige Dinge, die aber meinen Bilderhunger und meine Phantasiebedürftigkeit abgestillt haben, und darauf kam es mir eigentlich an. Und wenn man überhaupt nicht auf den Gedanken kommt, dass man der Erfinder seiner eigenen inneren Welten ist, dann endet man wirklich vorm Fernsehapparat."
Notizen nun gesammelt veröffentlicht
Dass der Hanser-Verlag zum 80. Geburtstag Wilhelm Genazinos dessen gesammelte Notizen aus Jahrzehnten - die unmittelbaren Früchte also seiner "Herumzottelei" - nun in einem schönen Buch herausgibt, ist eine verlegerische Großtat. Man freut sich beim Stöbern darin nicht nur über Geistesblitze...
Das Großartige an der Literatur: Über vieles können wir nicht sprechen, aber schreiben und lesen schon. Wilhelm Genazino: "Der Traum des Beobachters"
... sondern auch über witzige Miniaturen, die im Rückblick auf das schöne Schreibleben Genazinos wie Puzzlestücke erahnen lassen, wohin und wozu sie noch führen würden.
Die Schule der Besänftigung
Übrig geblieben von der Kindheit ist außerdem der Wunsch, ein Tier zu sein. Natürlich nicht mehr eine Eidechse oder ein Schaf wie früher, sondern heute, zum Beispiel, ein Steinwidder. Ich spiele manchmal, nur für mich, einen Steinwidder. Wilhelm Genazino: "Der Traum des Beobachters"
Knapp 20 Jahre nach dieser Notiz veröffentlichte Genazino den Roman "Wenn wir Tiere wären". Was wäre dann? Wir müssten nicht denken, wir müssten nicht dem Glück hinterherjagen, wir müssten nicht immerzu etwas tun. "Ein Tier steht eben irgendwo rum und setzt sich dann irgendwo hin, auch wenn es gerade der falsche Platz ist. Tiere merken gar nicht, dass sie unerwünscht sind - auch eine großartige Fähigkeit!", findet Genazino. "Diese Art der Unbeeindruckbarkeit durch die ganze Rationalität des menschlichen Lebens ist eben das, was mich sehr beeindruckt."
"Die Schule der Besänftigung" ist leider nur eine Erfindung des Philosophen und Wäschereibesitzers Gerhard Warlich im Roman "Das Glück in glücksfernen Zeiten". Sie ist nur eine Erfindung und steht doch ganz real in 20 Bänden vor uns: eine "Schule der Besänftigung" - das ist das Gesamtwerk Wilhelm Genazinos.