Voltaire: "Candide"
In 25 Folgen der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Voltaires "Candide".
Von Hanjo Kesting
Er war der berühmteste Schriftsteller seiner Zeit, des Jahrhunderts, das man das aufgeklärte nennt, es könnte auch das Jahrhundert Voltaires heißen. Er war seiner Zeit nicht voraus, aber überall in ihr, intensiver als irgendein anderer, ein Intellektueller, bevor man dieses Wort noch kannte, "der gewandteste, behendeste, wachste unter den Menschen", wie Paul Valéry gesagt hat - "neben ihm scheinen alle anderen zu schlafen oder dahinzudämmern". Voltaires literarische Tätigkeit war universal, seine Wirkung immens und kaum messbar. Er hat ein ganzes Zeitalter geprägt als leidenschaftlicher Aufklärer, der gegen Aberglauben und soziale Missstände, gegen Heuchelei, Engstirnigkeit und den Bruch des Rechtes zu Feld zog - bewaffnet allein mit seiner Feder.
Der kleine Roman "Candide oder Der Optimismus" ist Voltaires berühmtestes Buch. Es erschien 1759, zunächst anonym, aber die Verfasserschaft ließ sich nicht lange verbergen. Es wurde sogleich viel gelesen, belacht, gelobt, verdammt und missverstanden, von der katholischen Kirche auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt und in seiner bleibenden Aktualität erst im 20. Jahrhundert erkannt. Voltaire knüpfte formal an die Tradition des Schelmenromans an, obwohl "Candide" eher ein philosophischer Roman ist. Souverän wird darin Geschichtliches, Politisches, Ethisch-Moralisches und Dichterisches zusammengeführt und vereint.
Zur Handlung
Der Roman beginnt auf dem idyllischen Schloss des westfälischen Barons Thunder ten Tronckh, wo Candide - sein Name bedeutet "der Reine" oder "der Treuherzige" - die Lehre seines Meisters Pangloss in sich aufnimmt, dass die Welt gut und alles Geschehen unausweichlich zum besten Ende bestimmt ist. Doch dann wird Candide aufgrund seiner verliebten Vertraulichkeit mit Cunigonde, der Tochter des Hauses, aus dem Hause gejagt und fortan mit wechselndem Glück durch die Welt getrieben. Er gerät in das Erdbeben von Lissabon, das im Jahre 1754 die Menschen in ganz Europa erschütterte und ihrem aufgeklärten Fortschrittsglauben einen schweren Stoß versetzte. Er lernt Machtgier, Grausamkeit, Feigheit und Undank kennen, die Rohheit der Menschen im Urzustand, die Galeerenstrafe, die Profitgier und Mordlust der Goldsucher in Amerika, er muss Krankheit und Schiffbruch erdulden und fällt Piraten in die Hände, kurz, er erleidet auf seinen Irrfahrten durch die Welt so viel Missgeschick, dass sein fester Glaube an die gut eingerichtete Welt ins Wanken gerät.
Großes Weltkino in blitzschnellen Bildern
Denn da sind auch noch die Schrecken des Krieges und der Syphilis, die Inquisition, die Sklaverei, ganz zu schweigen von den Lastern der Zivilisation, den Qualen der Übersättigung und der Langeweile. Candide absolviert, kurz gesagt, eine Reise um die Welt auf achtzig Seiten als großes Weltkino in blitzschnellen Bildern, mit tragischen Abgründen und komischen Effekten wie aus einem Buster Keaton-Film. All das gibt Anlass zu vielen Betrachtungen - und so entsteht aus Schrecken und Komik ein philosophisches Welttheater als satirische Widerlegung der Lehre von der besten aller Welten.
Daniel Kehlmann hat "Candide" ein "flaches Buch" genannt, ohne Reichtum und Tiefe. Glücklicherweise hat er hinzugefügt, es sei "verzweifelt und wahr". Die Wahrheit liegt nicht immer in der Tiefe. Was die Verzweiflung angeht, so stellt Voltaire ihr seinen Witz als Bollwerk entgegen. So ist sein Buch ein Aktivitätsappell, fern allem Pessimismus, wenn auch nicht ohne Skepsis, und die boshafte Lustigkeit, mit der er die Erzählung vorträgt, spricht für die Kraft und Lebendigkeit der hier verkündeten Lebenslehre. Sie gipfelt in dem Satz, der am Ende des Buches steht: "Il faut cultiver son jardin", "man muss seinen Garten bebauen". Vielleicht klingt diese Formel allzu harmlos angesichts der Sorgen und Ängste unserer Gegenwart. Aber sie ist eine Aufforderung an jeden Einzelnen, mit der Veränderung der Welt bei sich selbst anzufangen. Schon Valéry hat gefragt, was Voltaire zur Existenz der Atombombe gesagt hätte. Und er kam zu dem Ergebnis, er hätte leise jenen so offenkundig wahren Satz gesagt: "Denn sie wissen nicht, was sie tun".