Ulrike Draesner und Halina Simon: Dem Trauma des Krieges begegnen

Stand: 05.03.2023 10:55 Uhr

Wie schreiben sich Krieg, Flucht und Vertreibung fort? Ulrike Draesners neuer Roman handelt von der Geschichte der Mutter der Verlegerin Halina Simon. "Die Verwandelten" gibt den Frauen aus zwei Familien eine Stimme.

Welche Traumata bleiben nach Krieg und Flucht in den Familien? Damit beschäftigt sich die Schriftstellerin Ulrike Draesner schon lange. Nach einer Lesung wurde sie darauf von einer Frau angesprochen: Die Verlegerin Halina Simon erzählte der Schriftstellerin von ihrer Mutter. Die sollte nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat Breslau vertrieben werden, doch sie blieb illegal und nahm eine polnische Identität an. Erst Jahrzehnte später erzählte sie der Tochter von den deutschen Wurzeln. Ausgehend von dieser Geschichte hat Ulrike Draesner einen umfangreichen Roman geschrieben: "Die Verwandelten".

Gegen die Sprachlosigkeit: Einander zuhören

Was geschieht, wenn Geschehenes ungesagt bleibt? "Das führt zu großen Verunsicherungen, zu uneinholbaren Erinnerungen, zu einem Verlust von Identität, Unsicherheiten, Ängsten", sagt Schriftstellerin Ulrike Draesner. "Und dabei hilft es nicht - im Gegenteil -, es schadet enorm, wenn über diese Geschichten nicht gesprochen werden kann."

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Cover "Die Verwandelten" © Penguin Randomhouse

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Wenn jemand spricht, wird es hell. Doch damit es hell werden kann, muss man einander zuhören. Die deutsche Schriftstellerin Ulrike Draesner hat zugehört. Die polnische Verlegerin Halina Simon hat erzählt. Sie eint die Suche nach ihren Wurzeln. "Das, was die Generation der Kinder der Kriegskinder erlebt, das ähnelt", sagt Halina Simon. "Egal, ob man eine Polin ist oder eine Deutsche." Ulrike Draesner fügt hinzu: "Ohne Flucht und Vertreibung hätte es ganz andere Enkelkinder gegeben. Du lebst da und stehst da und weißt gar nicht, wie Dir geschieht. Weil Dir eben alles sagt, dass Du irgendwie falsch bist."

Ulrike Draesners Vater stammt aus Schlesien. Halina Simon ist in Polen aufgewachsen. Als Tochter einer Mutter, die den Krieg erlebte. "Ich habe Träume gehabt, dass ich im Krieg bin und dass geschossen wird, dass ich irgendwo springe und mich verstecke, dass ich in so einer kleinen Streichholzschachtel ein kleines Kind habe, was ich beschützen muss. Dass ich immer wieder gucke, ob dieses Kind noch lebt und dann wieder die Schachtel zumache und zusehe, dass ich da irgendwie wegkomme", erzählt Simon.

Auf den Spuren der Vergangenheit: Gemeinsame Reise nach Polen

Um Halinas Geschichte zu begreifen, reisten die Frauen gemeinsam nach Polen. Nach Breslau, dorthin, wo Halina aufwuchs. Sie erfuhr erst als Erwachsene, dass ihre Mutter Deutsche war. Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten die Deutschen Polen verlassen. Ihre Mutter aber blieb - illegal. Fortan leugnete sie ihre wahre Identität. "Meine Mutter hat erzählt und erzählt und erzählt und ich hatte das Gefühl, dass sie irgendwas erzählt, um einfach ihre Ruhe zu haben", sagt Simon. "Sie spulte einfach Geschichten ab, bei denen mir nicht klar war, ob das wirklich die Wahrheit war. Denn im Nachhinein habe ich zum Beispiel festgestellt, dass noch nicht mal die engsten Freundinnen meiner Mutter von diesem Schicksal wussten."

Weil ihre Mutter die Wahrheit verschwieg, bliebt es lange dunkel in Halina Simon. "Wenn man sie nicht kennt oder glaubt, darüber schweigen zu können, gibt man unbewusst alles mögliche weiter und lebt auch selbst damit", sagt Ulrike Draesner, deren Vater aus Schlesien floh. "Ich habe es an meinem Vater gesehen, der wurde pensioniert und dann hatte er zehn Jahre lang Albträume, dass er seine Arbeit verliert, also wieder vertrieben wird, auf der Flucht ist. Die Dinge, die man nicht kennt, sind unruhig in der Psyche, in der Seele, im Körper und bedrängen einen und machen es unmöglich, an manchen Stellen mit den Herausforderungen der Gegenwart umzugehen." Zwei "Luftwurzlerinnen" seien Halina und sie.

Draesner verarbeitet Simons Familiengeschichte in ihrem Roman

"Ich hätte niemals gedacht, dass diese Familie interessant für jemanden sein könnte, oder dass sie würdig ist, erzählt zu werden", berichtet Simon. "Ich hab mit meinem Schicksal oder mit dem Schicksal meiner Familie immer sehr viel zu hadern gehabt." Ulrike Draesner fügt hinzu: "Ich sagte ihr dann relativ bald in unserer Bekanntschaft, dass das gefährlich ist, einer Schriftstellerin so etwas zu erzählen, und ich war sehr erleichtert, weil sie sagte, sie überlässt mir das und sie gibt mir auch die Freiheit."

Ulrike Draesner nutzt diese Freiheit und macht aus Halina Simons Erzählungen einen Strang in ihrem Roman. Der andere Strang ist eine fiktive Geschichte: eine rastlos reisende Tochter, deren Mutter in einem sogenannten Lebensbornheim der Nazis geboren wird - und bei arischen Adoptiveltern aufwächst. "Lebensborn" - auf dem Papier ein Zufluchtsort für ungewollt Schwangere.

Wie das Schweigen Wunden reißt

"Dann wird einem klar, dass es als Kriegsmaschinerie gedacht ist," erklärt Draesner. "Die Frauen sollen Kinder gebären, die später für das Reich sterben beziehungsweise für das Reich immer noch mehr Kinder, mehr Menschen erzeugen, die das Reich dann wieder als Objekte benutzen können. Auch die Frauen werden als Objekte benutzt. Ganz gruselig wurde die 'Lebensborn'-Geschichte dann später, als der Krieg von den Nationalsozialisten begonnen worden war."

Dass Zeit Wunden aufreißt, je länger man schweigt - davon erzählt Ulrike Draesners Roman. Von zwei Familien, von Frauen, die verstehen wollen und die versuchen, die Lücken ihrer Geschichte zu füllen. "Die Lücken sind ja das eigentlich Interessante - wo das Schweigen greift oder eben der Graubereich zwischen Sprechen und Schweigen beginnt", findet Draesner. Auch wenn jemand schreibt, kann es hell werden. Ulrike Draesner hat geschrieben.

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