Rachel Salamander über ihre Kindheit mit Holocaust-Überlebenden
Die Literaturwissenschaftlerin Rachel Salamander ist in Lagern für Displaced Persons in Bayern aufgewachsen. Sie hat das Leid der Überlebenden des Holocaust damals hautnah mitbekommen.
Am 27. Januar 2025 ist es 80 Jahre her, dass die Rote Armee das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit hat. Ein Ort des millionenfachen Massenmords, Inbegriff der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie. Wie war ein Leben nach dem Holocaust möglich? Erst recht in Deutschland, im Land der Täter. Rachel Salamander musste sich dieser Herausforderung stellen. Sie ist in Lagern für Displaced Persons in Bayern aufgewachsen. Das waren Lager, in denen Menschen lebten, die sich kriegsbedingt außerhalb ihres Heimatstaates aufhielten und ohne Hilfe nicht zurückkehren oder sich in einem anderen Land neu ansiedeln konnten.
Als Literaturwissenschaftlerin und leidenschaftliche Leserin hat sie vor vielen Jahren, Anfang der 1980er-Jahre, in München die "Literaturhandlung" eröffnet und damit einen ganz besonderen Ort geschaffen, der über München hinaus schnell für seine Einzigartigkeit bekannt wurde. Über ihre Kindheit, ihr Leben in Deutschland, ihre Arbeit spricht Rachel Salamander mit Claudia Christophersen in NDR Kultur à la carte.
Frau Salamander, Sie sind 1949 in einem Displaced Persons Camp für Überlebende des Holocausts in Deggendorf zur Welt gekommen, waren bis 1956 wieder in einem DP-Lager, diesmal in Föhrenwald. Das heißt, Ihre Kindheit war davon bestimmt, dass Sie mit Menschen zusammengewohnt haben, die größtes Leid erfahren hatten und in Konzentrations- und Vernichtungslagern Todesmärsche überlebt hatten. Das wird Sie sicherlich bis heute begleiten, oder?
Rachel Salamander: Ich war in diesem Lager mit 'dem letzten Rest der Geretteten', wie sie sich selbst nannten. Das waren Leute, die diese Hölle der Nationalsozialisten überstanden hatten. Das war für mich damals schon eine physisch spürbare Ausnahmegruppe von Menschen. Jeder trug ein Stück Vernichtung in sich, das haben sogar die Kinder gemerkt. Sie traten direkt aus dem Holocaust in das Leben zurück - paradoxerweise auf dem Boden ihrer Peiniger. In diesen DP-Lagern war meist ein zusammengewürfelter Haufen von Menschen, hauptsächlich aus Osteuropa, die vorher nie in Deutschland gewesen waren. In diesem DP-Lager schufen diese Geretteten zum letzten Mal in Europa eine Art jüdische Stätte. Man muss wissen, dass die Leute alle vor dem Nichts standen. Sie hatten alles verloren, aber wenn es etwas gab, dann bekamen die Kinder dieser Gesellschaft alles. Für mein Leben in der ganzen Bandbreite der Emotionen und der historischen Lage war dieser Aufenthalt im DP-Lager eine sehr stabile Lebensbasis.
Rachel Salamander, Sie haben sich immer wieder kritisch gefragt: Wo stehen wir heute? In Deutschland haben wir Bundestagswahlen vor uns, wir leben in turbulenten Zeiten und demokratische Spielregeln werden fortwährend einer Belastungsprobe unterzogen. Vielerorts ist offener Antisemitismus deutlich spürbar. Stellen Sie sich da die Frage: War Ihr Mahnen, Ihr Rufen nicht laut genug?
Salamander: Sie haben Recht. Ich habe mehr als 40 Jahre in diese Gesellschaft hineingerufen. Es gab die Skepsis und das unermessliche Misstrauen unserer Elterngeneration, die immer gewarnt hat, dass alles so, wie es ist, auch bleiben wird. Ich war selbst nie ein naiver Mensch. Ich wusste, was es bedeutet in Deutschland zu leben, was dieser Ort hier ist, und was geschehen war. Meine Arbeit wollte etwas Neues in der Beziehung beginnen, von Juden und Nichtjuden. Heute frage ich mich, ob alles vergebens war. Wie viele jüdische Generationen vor mir, wie zum Beispiel Schriftsteller von Berthold Auerbach bis Jakob Wassermann haben gesagt, alles war umsonst. Ich, die mit den Überlebenden aufgewachsen ist und die die Leidensgeschichte der Juden jeden Tag zu hören bekommen hat, habe natürlich schon ein aufgestelltes Warnsystem gehabt. Aber trotz meines Pessimismus und der Warnungen wollte ich einfach, dass die Wirklichkeit anders aussieht. Ich wollte, dass sie wohlwollender ist als das, was wir jetzt an Entwicklungen sehen. Aber jetzt, besonders nach dem 7. Oktober, da muss man sich der Wirklichkeit stellen. Wir haben missverständlich mitbekommen, wie schnell ein Antisemitismus wieder auf der Tagesordnung ist.
Das Gespräch führte Claudia Christophersen.