Bücher 2023: Diese Romane haben uns bewegt
Das Literaturjahr hat viele interessante Romane, Essays und Erzählungen geboten. Diese Bücher haben 2023 für Gesprächsstoff gesorgt.
2023 gab es Neues von den Buchpreisträgerinnen Helga Schubert und Katharina Hacker. Juli Zeh hat gemeinsam mit dem Autor Simon Urban den Debattenroman "Zwischen Welten" veröffentlicht. Für viel Gesprächsstoff sorgte auch Benjamin von Stuckrad-Barres "Noch wach?". Daniel Kehlmann spielt in seinem neuen Roman "Lichtspiel" mal wieder mit Fiktion und historischer Wirklichkeit. Aber auch international hatte der Buchmarkt viel zu bieten. John Irving hat mit "Der letzte Sessellift" nach sieben Jahren endlich einen neuen Roman vorgelegt. Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk begibt sich in "Empusion" in ein Sanatorium - eine Anspielung auf Thomas Manns "Zauberberg" und der frisch gekürte Nobelpreisträger Jon Fosse veröffentlicht die Erzählung "Ein Leuchten".
Ildikó von Kürthy: "Eine halbe Ewigkeit"
"Mondscheintarif" heißt der Debütroman der Hamburger Autorin Ildikó von Kürthy. Vor 25 Jahren erschien das Buch und war gleich ein großer Erfolg. Aber "Mondscheintarif" endete mit einem "vorläufigen Ende" - von Kürthy hat sich also damals ein kleines Hintertürchen offengelassen, um die Geschichte über Cora Hübsch weiter zu erzählen.
Ihre Protagonistin ist inzwischen Mitte 50, die Beziehung plätschert so dahin und das jüngste Kind zieht aus. Und dann ist sie auch noch in den Wechseljahren. Beim Lesen ist es, wie eine alte Freundin zu treffen, die man lange schon nicht mehr gesehen hat. Und Ildikó von Kürthy verspricht: Vielleicht wird es auch ein drittes Wiedersehen mit Cora Hübsch in Buchform geben! Die Fans würden sich sicher freuen.
Ulrike Sterblich: "Drifter"
Wenzel und Killer sind die Hauptfiguren in dieser rasanten Geschichte. Der eine ist eher der Verlierer-Typ (Wenzel), der andere macht eine steile Karriere (Killer) und ist ein echter Draufgänger. Doch Killer hat einen Unfall, wird vom Blitz getroffen. Daraufhin verschiebt sich seine Wirklichkeit. Und dann gibt es da noch die rätselhafte Frau in dem goldenen Kleid, die Frohsinn und Partys ins Leben der Jungs bringt. "Drifter" hat eine gewisse Ziellosigkeit, die man aushalten muss, gleicht aber erzählerisch einer Konfetti-Kanone. Eine meisterhafte Geschichte über das große Nichts, die auch für den Deutschen Buchpreis nominiert war.
Florian Illies: "Zauber der Stille"
Caspar David Friedrich ist einer der berühmtesten deutschen Maler. Florian Illies nähert sich in seinem neuen Buch "Zauber der Stille" dem Künstler an. Wie in "Liebe in Zeiten des Hasses" oder "1913" hat Illies in aufwendiger Recherche Anekdoten und Geschichten gesammelt und sie zu einem zeitübergreifenden Mosaik zusammengefügt. So erzählt er von Walt Disney, der sein Trickfilm-Bambi durch Landschaften von Friedrich streifen lässt oder wie Friedrich 1837 in einem Gasthof einmal fast Richard Wagner begegnete. Florian Illies beschreibt Caspar David Friedrich als einen ungelenken, schwermütigen, zu Depressionen neigenden Mann, der zeitlebens unter einem schweren Kindheitstrauma gelitten hat.
Marica Bodrožić: "Von der Liebe der Tiere"
Tiere übernehmen in den Büchern von Marica Bodrožić immer auch die Aufgabe, herausfinden zu helfen, wie es um uns Menschen steht. Das ist auch in ihrem neuen Buch "Mystische Fauna - Von der Liebe der Tiere" so. Die Ich-Erzählerin nimmt die Lesenden mit auf eine Reise in die "Unterwelt ihrer Erinnerungen". Ausgelöst wird alles durch einen Hund auf La Gomera. Die Ich-Erzählerin soll für einige Monate auf ihn aufpassen. Innerhalb sehr kurzer Zeit bringt Inselito, so der Name des Hundes, Kindheitserinnerungen in ihr zum Vorschein, die wie Traumata tief verschüttet waren. In ihrer in Dalmatien verbrachten Kindheit gab es auf dem Hof ihres Großvaters schon einmal einen Hund. Er hieß Chio. Aber dem ist es nicht gut ergangen.
Jon Fosse: "Ein Leuchten"
Am 10. Dezember wurde der norwegische Autor Jon Fosse offiziell mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Kurze Zeit später erschien sein neues Buch, die Erzählung "Ein Leuchten", auf Deutsch. Darin erzählt Fosse von einem Mann, der ziellos mit seinem Auto durch die Gegend fährt, bis er sich in einem Wald festfährt. Dort begegnet ihm eine rätselhafte, leuchtende Gestalt. Da Jon Fosse gläubiger Christ ist, kann die Erscheinung durchaus religiös grundiert sein. Fosses Protagonist ist skeptisch, aber bereit sich auf unbekannte Empfindungen einzulassen. "Ein Leuchten" ist nur 80 Seiten lang. Die Erzählung greift aber viele Themen auf und lädt dazu ein, über sie zu sinnieren.
Uwe Timm: "Alle meine Geister"
Im Alter von 83 Jahren legt Uwe Timm eines seiner großartigsten Bücher vor. In leichtem, schwebendem Erzählton erinnert sich der Autor in "Alle meine Geister" an seine jungen Jahre. Er erinnert sich ans Aufwachsen in der Trümmerstadt Hamburg, erinnert sich an die Bücher, aus denen ihm die Eltern vorlasen, erinnert sich an seine Ausbildung in einem schon aussterbenden Beruf, dem Kürschner-Handwerk - das alles aber immer unter der Maßgabe: "Erinnern ist ein merkwürdiges Vergessen." Uwe Timm führt einen magischen, behutsamen, intensiven Dialog mit seinem Leben.
Monika Helfer: "Die Jungfrau"
Monika Helfer erzählt in "Die Jungfrau" von einer Freundin, die sie nie ganz verstanden, aber meistens geliebt, auch beneidet und hin und wieder mal kurz verachtet hat. Gloria ist vaterlos, aber unglaublich vermögend mit ihrer sich zu Tode verfettenden Mutter in einem riesigen Haus in Bregenz aufgewachsen, einem Monster von einem Haus. Was für ein Kontrast zur Beengtheit, in der Monika, nur ein paar Straßenzüge weiter, groß wird. Es ist die Geschichte einer Heranwachsenden, einer jungen, einer mittelalten Frau, die durch Anmut und gelinde Dramatik im Auftritt beeindruckt, der sich ihre Freundin Monika aber nie unterlegen fühlt, auch deshalb nicht, weil sie sich zumindest im Verborgenen fragen darf, ob sie nicht doch die Schönere ist. Eine Freundschaft, die das Gleichgewicht sucht und meist auch findet. Der Grundton des neuen Romans von Monika Helfer ist märchenhaft und doch ganz real, magisch und im Einzelnen doch sehr handfest, mit kleinen Tupfern ein großes Gemälde malend.
Ferdinand von Schirach: "Regen"
"Verbrechen", "Schuld" und "Strafe" - so heißen die Storybände, mit denen Ferdinand von Schirach berühmt wurde. Den Justizgeschichten folgten autobiografische Erzählungen, die deutlich machten, dass Schirachs Schreiben nicht vornehmlich von der Erfahrung als Strafverteidiger bestimmt wird. Enttäuschung, Verlorenheit, Reue - das sind die ureigenen Lebensthemen dieses Autors. Mit seiner Erzählung "Regen" setzt Schirach seine Beschäftigung mit existenziellen Fragen fort. Ein Mann kommt vom Regen durchnässt in eine Bar und hebt an zu einem Monolog über Schuld und Vergebung. Der Verlag preist die Publikation als "eine ebenso mutige wie sehr persönliche Erzählung, ein literarisches Spiel an der Grenze zwischen Bühnenfigur und Autor".
Daniel Kehlmann: "Lichtspiel"
Daniel Kehlmann spielt in seinem neuen Roman mal wieder mit Fiktion und historischer Wirklichkeit. "Lichtspiel" erzählt die Geschichte von G.W. Pabst - einem gefeierten Regisseur der Weimarer Republik. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten versucht Pabst, Anfang der 1930er-Jahre in Hollywood Fuß zu fassen. In Europa ist er berühmt, hat mit der Garbo gedreht und Brechts "Dreigroschenoper" verfilmt. Doch in den USA ist er nur einer unter vielen. Nach einem missglückten Versuch in der Traumfabrik tritt Pabst die Heimreise an. So landet er zunächst in Frankreich. Bei einer Reise nach Österreich werden Pabst und seine Familie vom Beginn des Zweiten Weltkriegs überrascht. Die Grenzen sind dicht, er kommt nicht mehr raus aus Nazi-Deutschland. Goebbels umgarnt ihn, zunächst verweigert er, doch dann gerät er immer tiefer in die Fänge des NS-Staates.
Viktor Jerofejew: "Der große Gopnik"
Als der Krieg zwischen Russland und der Ukraine begann, hat der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew sofort die Koffer gepackt und mitsamt seiner Familie sein Geburtsland verlassen. Er hatte immer schon deutlich Kritik an Putin geäußert und fürchtete eine mögliche Inhaftierung. Sein Roman "Der große Gopnik" erzählt von sich und seinem Land - und entlarvt dabei das Wesen der russischen Macht. In kurzen Kapiteln erzählt Viktor Jerofejew von sich selbst und von Russland. Im Zentrum: Die Geschichtsvergessenheit, die Unfähigkeit der Russen, sich der eigenen Gewalt-Historie zu stellen, und sich stattdessen an archaisches Denken und den Mythos zu klammern und deshalb im Kreis zu drehen.
Tonio Schachinger: "Echtzeitalter"
Autor Tonio Schachinger wurde für seinen Roman "Echtzeitalter" mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Der Schauplatz seines Romans ist ein elitäres, österreichisches Internat. Hier geht Till zur Schule. Er kann mit seinem snobistischen Umfeld und den verknöcherten Strukturen nichts anfangen. Viel lieber möchte er Profi-Gamer werden. Nach dem Tod seines Vaters findet er Zuflucht im Spiel "Age of Empires" und gehört bald zu den besten Spielern weltweit. Doch das zählt nichts in der Welt der Erwachsenen. Allen Schikanen zum Trotz geht Till seinen Weg.
Annie Ernaux: "Die leeren Schränke"
Vor einem Jahr bekam Annie Ernaux den Literaturnobelpreis; nun erscheint ihr 1974 veröffentlichtes Debüt "Die leeren Schränke" erstmals auf Deutsch. Noch nicht ganz so lakonisch wie in ihren späteren Büchern, manchmal sogar extrem redundant, dafür aber auch sehr eindringlich umkreist sie schon hier ihr großes Lebensthema: die Verwurzelung in der durch Geburt bestimmten Klasse, eine Verwurzelung, die nie ganz zu kappen sein wird. Nicht einmal Bildung, nicht einmal Bücher holen sie da raus. Ein unendlich trauriger, faszinierender Text, über den man noch lange grübeln muss.
Terézia Mora: "Muna oder Die Hälfte des Lebens"
Muna ist eine Frau, die sich alles selbst erarbeiten muss und das auch tut. Kulturversessen, wissbegierig, zupackend zieht sie zum Studieren los, testet verschiedene Jobs, Männer, Städte. Konzentriert sich - Literaturwissenschaftlerin, die sie bald ist - auf weibliches Schreiben und eher feministische Fragen. Nur hilft ihr das Wissen aus den Büchern persönlich nicht weiter. Immer wieder landet sie in Situationen, in denen sie nicht für ihre Unversehrtheit einzutreten weiß. Und Magnus, die große Liebe, stärkt ausgerechnet diese Seite. Die Ich-Erzählerin schildert, wie ihr Gewalt angetan wird, seelisch wie körperlich. Sie beschreibt präzise, überlässt aber die großen Fragen dem Leser: Warum hofft sie auf Glück mit diesem Mann? Warum erkennt sie Liebe in einer Beziehung, die so wenig Freundlichkeit bereithält? Was Terézia Mora hier gelingt, ist große literarische Kunst.
Colson Whitehead: "Die Regeln des Spiels"
Der zweifache Pulitzer-Preisträger Whitehead setzt seine Roman-Reihe um den Möbelhändler Ray Carney aus dem New Yorker Stadtteil Harlem fort, die er mit "Harlem Shuffle" begonnen hat. "Die Regeln des Spiels" spielt nun in den 1970er-Jahren und Ray Carney dreht immer noch halbwegs krumme Dinger. Und dann möchte seine Tochter auch noch zum ausverkauften Konzert der "Jackson Five" im Madison Square Garden. Das funktioniert natürlich nicht ohne Komplikationen.
Im Grunde besteht das Buch aus drei Novellen, drei virtuos miteinander verwobenen Geschichten, in denen Harlems Oberschicht und die Welt der Ganoven aufeinandertreffen. Dabei fängt Colson Whitehead die schwierige wirtschaftliche Lage der Menschen in Harlem in den 1970er-Jahren ein. Es geht hart und verkommen zu, aber auch lebensfroh und swingend. Gut, dass die Harlem-Reihe als Trilogie angelegt ist.
Deniz Utlu: "Vaters Meer"
13 Jahre alt ist Yunus, als sein Vater durch zwei Schlaganfälle aus dem alltäglichen Leben gerissen wird. Zehn Jahre wird er noch als Pflegefall leben. Aber der Sohn braucht länger, sich der Geschichte seines Vaters zu stellen. Je mehr er in sie eintaucht, desto mehr verschwindet der reale Vater hinter der Projektion einer literarischen Person. "Vaters Meer" ist aber auch ein Buch über Einsamkeit. Denn immer läuft die Frage mit: Was heißt es, die Heimat zu verlassen und sich in der Fremde ein neues Leben aufzubauen?
Alena Schröder: "Bei euch ist es immer so unheimlich still"
Mit "Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid" gelang Alena Schröder vor zwei Jahren ein großer Erfolg. Nun veröffentlicht sie die Vorgeschichte. Wie der erste Band spielt auch dieser auf zwei Zeitebenen. Zum einen im Jahr 1989, als eine Frau aus West-Berlin zurück in ihr schwäbisches Heimatdorf kommt. Außerdem in den 1950er-Jahren, als ihre Mutter sich den Gegebenheiten der Zeit unterwerfen muss. "Bei euch ist es immer so unheimlich still" ist ein unterhaltsamer wie bewegender Roman, ohne sprachliche Eitelkeiten, auf Augenhöhe mit Leserinnen und Lesern, schnörkellos, aber nicht trocken.
Stephan Lohse: "Das Summen der Haut"
Hamburg 1977: Der vierzehnjährige Julle verliebt sich in seinen Mitschüler Axel und von diesem Moment an tritt sein Leben in eine völlig neue Phase. Alle Aufregungen, Ängste, Sorgen, Betrübnisse, Räusche und Erschütterungen eines jungen Menschen, der seine erste Liebe erlebt, zeichnet der Autor Stephan Lohse packend und einfühlsam. "Das Summen unter der Haut" ist ein Sommerbuch über die erste Liebe, von der man sich nie so ganz erholt.
Charles Lewinsky: "Rauch und Schall"
Spätes 18. Jahrhundert in Weimar: Johann Wolfgang von Goethe leidet unter einer ausgewachsenen Schreibkrise, nicht mal ein Festgedicht für die Herzogin bringt er zustande. Da helfen auch die Äpfel in der Schreibtischschublade nicht - ein Tipp von Friedrich Schiller. Und Christiane Vulpius kann den Dichter weder mit gutem Essen noch mit Liebesdiensten ablenken. Helfen lässt sich Goethe ausgerechnet von seinem Schwager August Vulpius, den er eigentlich verachtet.
Dem Schweizer Charles Lewinsky ist mit "Rauch und Schall" ein absurd-komischer Roman über den Weimarer Dichterfürsten gelungen, der sich aber auch mit aktuellen Fragen beschäftigt, zum Beispiel: Was ist Literatur? Intelligente Unterhaltung!
Liao Yiwu: "Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs"
Mit der Liebe ist es so eine Sache, vor allem in politisch sehr unruhigen Zeiten. Davon handelt das neue Buch des Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels, Liao Yiwu. Seine kritische Haltung gegenüber der chinesischen Regierung, die er auch in Gedichten ausgedrückt hat, brachten ihm Gefängnisstrafe und Folter ein. 2011 gelang ihm die Flucht und seitdem lebt er in Deutschland im Exil. Im neuen Roman blickt Liao Yiwu zurück auf die Zeit Maos. Er begleitet seinen Protagonisten Zhuang Zigui durch die Jahre der Götzenverehrung und zeigt, wie Schritt für Schritt die Liebe zum Herkunftsland zerbröckelt und nur die Liebe zur chinesischen Kultur und Sprache bleibt. Sie aber ist unerschütterlich. Ein manchmal hartes, aber immer beeindruckendes Buch.
Toni Morrison: "Im Dunkeln spielen"
Toni Morrison ist bislang die einzige Afro-Amerikanerin, die mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Das war im Jahr 1993. Die Schriftstellerin bekam den Preis zwar für ihr Lebenswerk, in der Laudatio wurden ihre Essays in dem Band "Im Dunkeln spielen" aber auch hervorgehoben. Nun hat der Rowohlt Verlag das Buch überarbeitet, sprachlich aktualisiert und neu herausgebracht. Toni Morrison zeigt in verschiedenen Essays auf, wie groß die Diskriminierung in Klassikern der modernen Literatur (wie etwa von Hemingway) ist. Dadurch setzte sie sich schon früh für eine diskriminierungsfreie Sprache ein - ein Prozess, der auch heute noch nicht abgeschlossen ist. Beeindruckend - und hochaktuell.
Wilfried N’Sondé: "Frau des Himmels und der Stürme"
Thriller, Umweltdrama, Märchen mit esoterischen Untertönen - wie bitteschön soll das zusammen gehen in einem Roman? Für den französischen Schriftsteller und Musiker Wilfried N’Sondé kein Problem. In seinem fulminanten Roman "Frau des Himmels und der Stürme" entdeckt ein Schamane im Permafrostboden Russlands das über 10.000 Jahre alte Grab einer schwarzen Frau. Er beginnt einen meditativen Dialog mit ihr, um ihr die Geheimnisse der Natur zu entlocken. Währenddessen sollen ganz in der Nähe dieses Grabes neue Erdgasvorkommen vermarktet werden. Ist der Mensch ein lernfähiges Wesen? Die Hoffnung ist gering, aber nicht aufgebraucht. Ein Roman, der aufs Herz zielt - und trifft.
Volker Weidermann: "Mann vom Meer"
Das Meer ist für Thomas Mann zeitlebens ein Ort der Verheißung und der Sehnsucht. Hier hat er es gewagt, sich in junge Männer zu verlieben und manchmal sogar seine antrainierte Versteinerung zu verlassen. Seine Liebe zum Meer hat er vielen seiner Romanfiguren eingeschrieben - am direktesten Hanno Buddenbrook. Chronologisch hangelt sich Volker Weidermann in "Mann vom Meer" durch das Leben und künstlerische Schaffen des Schriftstellers und verbindet es immer wieder geschickt mit dem Meeresthema. Elegant verbindet er Zitate aus Romanen und Tagebüchern mit seiner eigenen erzählenden Interpretation. Das ist sehr unterhaltsam, farbig und berührend.
John Ironmonger: "Der Eisbär und die Hoffnung auf morgen"
Der Brite John Ironmonger hat ein gutes Gespür für Themen. Sein Roman "Der Wal und das Ende der Welt" nahm die Folgen einer Pandemie vorweg, seine Erzählung "Das Jahr des Dugong" beschäftigte sich mit dem (Über-)Leben in einer zerstörten Umwelt. Und auch in seinem neuen Roman geht es um unsere Zukunft - und den Klimawandel. "Der Eisbär und die Hoffnung auf morgen" hat gute Voraussetzungen, das Buch der Stunde in 2023 zu werden.
Maylis de Kerangal: "Kanus"
Maylis de Kerangal findet die schönsten, wundersamsten Bilder über die Stimme. Mal klingt sie wie ein "helles Kanu auf dunklem Ozean" oder "spitz ohne Schärfe wie ein Gebirgsbach". Acht höchst unterschiedliche Erzählungen verbindet die französische Autorin in ihrem Erzählband - alle drehen sich um die weibliche Stimme. Die Texte machen klar, welche Rolle die Stimme für das Menschsein spielt. In jeder Geschichte taucht eines der titelgebenden Kanus auf - mal als Halskettenanhänger, mal als Postkartenmotiv, mal als Metapher. Das ist wie eine Unterschrift, die alle Texte miteinander verknüpft - eine inhaltliche Bedeutung haben die Kanus nämlich nicht. Ein Erzählband, der laute und leise Töne funkeln lässt!
Olga Tokarczuk: "Empusion"
In Olga Tokarczuks neuem Roman geht es dieses Mal - ähnlich wie in Thomas Manns "Zauberberg" - in ein Sanatorium für Lungenkrankheiten. Allerdings nicht in die Schweiz, sondern nach Niederschlesien. Irgendetwas stimmt nicht, in diesem Lungenkurort. Schon kurz nach der Ankunft des Protagonisten Mieczyslaw Wojnicz begeht die Frau des Pensionswirts Selbstmord. Auffallend viele Grabsteine tragen ein Todesdatum um den 11. November. Tokarczuk kombiniert in "Empusion" wieder einmal mystische Elemente mit historischer Realität. Auf beeindruckende Weise lässt Tokarczuk den frauenfeindlichen und rassistischen Geist der damaligen Zeit wieder aufleben. Und ähnlich wie Hans Castorp beginnt sich auch Mieczyslaw Wojnicz zu verwandeln, allerdings auf eine ganz andere Art und Weise.
J. M. Coetzee: "Der Pole"
Wie klingt die Sprache der Liebe? Dieser Frage geht der südafrikanische Autor in seinem schmalen neuen Buch nach, das im vergangenen Jahr zuerst auf Spanisch erschien. Ein polnischer Musiker und eine spanische Konzertveranstalterin treffen in der Geschichte aufeinander. Liebe auf den ersten Blick ist es nicht. Doch nach einiger Zeit meldet sich der Pianist doch noch einmal bei der Frau und löst ungeahnte Gefühle bei dieser aus. Doch wie so oft bei Coetzee spielt sich das Eigentliche zwischen den Zeilen der Erzählung ab. Beide können sich nur auf Englisch miteinander verständigen, das sie jedoch nicht gut genug beherrschen, um ihre Gefühle füreinander auszudrücken. Und so bleibt die Liebe umständlich.
Caroline Wahl: "22 Bahnen"
Tilda studiert Mathe, jobbt an einer Supermarktkasse und kümmert sich - quasi nebenbei - um ihre kleine Schwester Ida. Beide leben bei der Mutter, die Väter haben sich aus dem Staub gemacht. Die Mutter trinkt und an schlechten Tagen schlägt sie Ida. Als Tilda die Chance bekommt, ihr Studium in Berlin fortzusetzen, beschließt sie, Ida stark und unabhängig zu machen. Tilda entwickelt ein Ida-Trainingsprogramm: einkaufen, Bücher ausleihen, Hilfe in Anspruch nehmen.
Caroline Wahl erzählt die Geschichte von Ida und Tilda ohne Sentimentalitäten, trotzdem wirkt das Buch nicht deprimierend. Dass ein Debütroman so einschlägt, ist ungewöhnlich, aber in Caroline Wahls Fall absolut berechtigt. Denn "22 Bahnen" ist gut und zeitlos erzählt, kaum zu glauben, dass das Buch in rund drei Monaten geschrieben war. Eine echte Entdeckung!
Eugen Ruge: "Pompeji"
Eugen Ruge hat im April seinen neuen Roman "Pompeji" vorgelegt. Metzgerssohn Jowna, genannt Josse, ist ein linkischer junger Mann. Gegen viele Widerstände schafft er es, eine nicht ganz kleine und langsam wachsende Zahl von Menschen davon zu überzeugen, knapp 20 Meilen entfernt, am Ufer des Meeres, ein neues Gemeinwesen zu gründen: Hier kommen Aussteigerinnen und Aussteiger zusammen, die sich dem freien Leben und der freien Liebe hingeben wollen. Josse sammelt Macht und Einfluss, formt aus dem einstigen Vogelschutz- den Vulkanverein. Dann aber verleiten ihn vielfältige Interessen zur radikalen Wende: In einer seiner fulminantesten Reden fordert er plötzlich die Rückkehr nach Pompeji. Man müsse lernen, "mit dem Vulkan zu leben".
Dinçer Güçyeter: "Unser Deutschlandmärchen"
Hart ist die körperliche Arbeit, ruppig der Ton unter den Kollegen. Dazwischen: er, der sich selbst "der Junge im Blaumann" nennt. Tagsüber steht er an der Drehmaschine, liest in den Pausen Else Lasker-Schüler. Nach Feierabend schreibt der Junge selbst Gedichte. Mit "Unser Deutschlandmärchen" ist Dinçer Güçyeter ein gefühlvolles Romandebüt gelungen. Der Autor findet magische, dichte, auch schmerzhafte Bilder für das Leben vieler Einwanderer. Dafür wurde er mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.
Lukas Bärfuss: "Die Krume Brot"
Im neuen Roman des Büchnerpreisträgers Lukas Bärfuss geht es ums Erben - wie schon in seinem, im letzten Jahr erschienen Essay "Vaters Kiste". In "Die Krume Brot" erzählt der Autor aus der Schweiz die Geschichte von Adelina, die noch als Minderjährige einen Schuldenberg von Vater und Großvater erbt. Um die Schulden abzubezahlen, bricht sie ihre Lehre ab und arbeitet fortan in einer Fabrik. Als sie Mutter wird, muss sie sich auch noch um die Betreuung ihrer Tochter kümmern - eine schwierige Situation, aus der sich Adelina kaum selbst befreien kann. Lukas Bärfuss ist selbst mit einer alleinerziehenden Mutter groß geworden und weiß, wovon er schreibt. Sein Roman rüttelt auf und macht wütend - und ist der Auftakt einer Trilogie.
Robert Seethaler: "Das Café ohne Namen"
In seinem neuen Roman knüpft Robert Seethaler wieder an seine besondere Begabung an, Lebensläufe zu beschreiben, indem er sie auf pures Dasein reduziert. Die Romanhandlung beginnt 1966 in Wien, auf einem Marktplatz in einem eher ärmlichen Stadtbezirk. Dort sucht ein junger kräftiger Mann namens Robert Simon nach Arbeit; er hilft den Marktbeschickern bei allem, wozu man kräftige Arme braucht. Simon arbeitet sich hoch. Pachtet ein Kaffeehaus und macht aus einem staubigen Loch ein heimeliges Café. Doch zehn Jahre später wird das Haus plötzlich verkauft. In "Das Café ohne Namen" geht es um das bloße Überleben, um Liebe, Kraft und Tod.
John Irving: "Der letzte Sessellift"
Mit 80 Jahren übertrifft sich der Autor von voluminösen Weltbestsellern wie "Garp und wie er die Welt sah" oder "Das Hotel New Hampshire" noch einmal selbst: Auf 1.088 Seiten lässt John Irving - diesmal in Aspen, Colorado - den "letzten Sessellift" schweben. Der Ich-Erzähler dieser Geschichte, heißt Adam. Seine Mutter Rachel, genannt Little Ray, bekam ihn mit 18 und verriet nie, wer sein Vater ist. Adam wächst im Wesentlichen bei seinen Großeltern auf. Denn seine Mutter arbeitet weit entfernt als Skilehrerin - sehr zum Leidwesen ihres Sohnes.
Benjamin von Stuckrad-Barre: "Noch wach?"
Mit Spannung war der neue Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre erwartet worden. Der Roman erzählt von Machtstrukturen und Machtmissbrauch. Eine Anspielung auf Ex-"Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt und Springer-Chef Matthias Döpfner? Es fällt schwer, beim fiktiven Vorstandschef eines Boulevardmediums, der sich selbst als künstlerischen Freigeist betrachtet und unbedingt in die USA expandieren will, nicht an Mathias Döpfner zu denken. Trotzdem ist das Buch kein Männerroman. Im Gegenteil: Die Frauen stehen im Fokus. In "Noch wach?" beschreibt Stuckrad-Barre das System #metoo von allen Seiten.
David Safier: "Solange wir leben"
Wie schreibt man über die Liebesgeschichte der eigenen Eltern? Zwölf Jahre lang hat David Safier darüber nachgedacht. Viel haben ihm seine Eltern - vor allem wegen erlittener Kriegstraumata - nicht erzählt, in seinem Buch steckt also viel Rekonstruktionsarbeit. Sein Tonfall in diesem Roman deshalb: eher nüchtern beschreibend als fabulierend.
Die Geschichte von Joschi, dem Juden aus Wien, und Waltraud, der alleinerziehenden jungen Mutter aus Bremen, bietet große Gefühle und echte Dramatik. Sie spiegelt aber auch deutsch-jüdische Geschichte wider und zeigt, wie viel Mut David Safiers Vater brauchte, um sich nach dem Holocaust, in dem er viele Familienmitglieder verloren hatte, in Deutschland niederzulassen. "Solange wir leben" ist eine zärtlich geschriebene Liebeserklärung und eine packende Lektüre.
Katharina Hacker: "Über Leben mit Tier"
Scherz, Ironie und tiefere Bedeutung - alles ist drin in den "Minutenessays" von Katharina Hacker. Die Buchpreisträgerin ("Die Habenichtse") wendet sich diesmal in ihren Kurztexten dem staunenswerten Leben der Tiere zu. Hunde, Meerschweinchen, Katzen, Kaninchen: Insgesamt dreizehn Tiere hat die Schriftstellerin Katharina Hacker. Dreizehn Tiere bringen natürlich die Gedanken in Bewegung, die Gefühle wahrscheinlich auch, und so entsteht Literatur. Von den Tieren aus denkt Katharina Hacker über uns Menschen und unser Leben in dieser Welt nach. Denn natürlich gilt: "Wie meist, wenn wir über Tiere reden, sagt das mehr über uns, als über Hunde oder Katzen."
Sebastian Hotz: "Mindset"
Der Satiriker und Gagautor Sebastian Hotz alias El Hotzo teilt auf Twitter und Instagram tagtäglich Alltagsbeobachtungen gepaart mit politischen Kommentaren. Nun ist er unter die Schriftsteller gegangen und hat seinen ersten Roman geschrieben. Darin geht es um Maximilian Krach, einen Motivationscoach, der "zu schwachen" Männern Stärke beibringen will. Doch bei aller zur Schau gestellten Selbstsicherheit quälen ihn selbst insgeheim Zweifel und Panikattacken. Der angebliche Erfolgsguru ist ein Hochstapler. Hotz entlarvt unser aller Selbstinszenierungs- und Selbstoptimierungswahn - und hält auch sich selbst den Spiegel vor. Der Twitter-Satiriker erzählt mit viel Ironie, scharfzüngigem Witz und immer treffsicher.
Andrzej Stasiuk: "Grenzfahrt"
Juni 1941 am Ufer des Bug im Osten Polens. Lauernd stehen sich hier zwei hochgerüstete Mächte gegenüber: Deutschland und die Sowjetunion. Es herrscht Stillstand - die Stimmung bedrückend. Alle belauern sich, keiner weiß, wann es losgeht, wann Nazi-Deutschland zum Angriff übergeht. In dieser Stimmung spielt der Roman. Andrzej Stasiuk ist dabei immer ganz nah an seinen Figuren. Er fängt ihre Gefühle, ihre Angst ein - den bedrohlichen Dämmerzustand, in dem sie sich befinden. Darunter der Fährmann und ein jüdisches Geschwisterpaar auf der Flucht.
Daniel Glattauer: "Die spürst du nicht"
In Daniel Glattauers neuem Roman geht es, wie er selbst sagt, "um Menschen, von denen wir nichts wissen wollen, weil wir sie nicht spüren". Konkret geht es um ein Flüchtlingskind aus Somalia. Zwei Familien machen Urlaub in Italien, aber die Idylle wird bald gestört und will sich auch nach der Rückkehr nach Österreich nicht wieder einstellen. Wieder nutzt Glattauer dabei die modernen Kommunikationsmittel als literarische Form, diesmal mit Chats und Kommentaren aus Internet-Foren. Der Autor legt dabei immer wieder den Finger in die Wunde unserer vermeintlich heilen Welt. Ein abwechslungsreiches und kurzweiliges Buch.
Judith Hermann: "Wir hätten uns alles gesagt"
Mit ihrem Debüt "Sommerhaus, später" hat Judith Hermann eine ganze Generation in den Sog ihrer betörenden Sprache gerissen. Es folgten Erzählungsbände und Romane wie "Nichts als Gespenster", "Aller Liebe Anfang", "Lettipark" und zuletzt, 2021, "Daheim". Der poetische Judith-Hermann-Sound hat immer etwas Schwebendes und Geheimnisvolles - auch in ihrem neuen Buch "Wir hätten uns alles gesagt". Dennoch ist Judith Hermanns Sprache klar und präzise. "Wir hätten uns alles gesagt" ist eine poetologisch-psychologische Tiefenschürfung.
Helga Schubert: "Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe"
Bachmann-Preisträgerin Helga Schubert macht ihrem schwer kranken Mann nach über 50 Jahren Beziehung noch einmal eine rührende Liebeserklärung. In "Der heutige Tag" schreibt sie über "all die Dinge, die das Leben inmitten der Widrigkeiten des Alters lebenswert machen". Ob es um Blasenkatheter geht oder die 25 Tabletten, die die Erzählerin ihrem Mann jeden Tag zuteilt, ob um das gemeinsame Frühstück im Wintergarten oder das Händestreicheln am Abend. Hier schreibt eine, die ihren Mann liebt und pflegt. Und das hat man so noch nie gelesen. Hier erzählt eine vom Ausatmen eines Lebens.
Teresa Präauer: "Kochen im falschen Jahrhundert"
Es soll ein wunderbarer Abend werden. Bis ins kleinste Detail hat sich die Gastgeberin ihre erste Party in der neuen Wohnung ausgemalt. Alle Gäste sind gesettelte Gutverdiener, bemüht locker, dabei spießig bis in jede Faser. Oberflächlich eingespielt, plätschern die nichtssagenden Gespräche durch den Abend. Die Freundlichkeit der Gastgeberin ist nur Fassade, innerlich ist sie ein einziger Krampf. Sie rechnet mit Scherben, ruinierten Fußböden und Patzern ihres Partners. Ganz abgesehen von den zwischenmenschlichen Dramen, die sich anbahnen. Die Österreicherin Teresa Präauer erzählt diese Geschichte eines Abends in mehreren Anläufen. Am Anfang malt sie das Ideal aus - dann setzt sie neu an, und nach und nach kommt die korrigierte Wahrheit ans Licht. Ein zynisch-witziger Roman, scharf, klar und auf die Zwölf.
Jakob Guanzon: "Überfluss"
Henry lebt in prekären Verhältnissen in den USA. Zusammen mit seinem Sohn wohnt er in einem Truck, die Ladefläche dient als Lager ihrer wenigen Habseligkeiten. Um den achten Geburtstag seines Sohnes gebührend zu feiern, wollen die beiden bei McDonalds essen und in einem Motel übernachten. Dort aber kommt es zu einem Zwischenfall. Jakob Guanzons Roman spielt auf zwei Zeitebenen. Die zweite reicht bis in Henrys eigene Kindheit zurück. "Überfluss" überzeugt durch seine Komposition, aber auch durch das psychologische Feingefühl des Autors für seine Figuren. Dadurch verkommt der Roman auch nicht zu einer abgeschmackten Erzählung über Armut.
Ulrike Draesner: "Die Verwandelten"
Ulrike Draesner schreibt immer wieder über die Folgen von Krieg, Flucht und Vertreibung. Auch in "Die Verwandelten" geht es im Kern darum. Die Anwältin Kinga erbt überraschenderweise eine Wohnung in Wrocław (Breslau). Dort hatte sich ihre verstorbene Mutter Alissa in ihren letzten Lebensjahren auf die Suche nach ihren schlesischen Wurzeln gemacht. Denn Alissa wurde in einem nationalsozialistischen "Lebensborn"-Heim geboren und später von einer Münchener Familie adoptiert. So verlor sie den Bezug zu Reni, mit der sie ihre ersten Lebensjahre verbrachte. Wie die Geschichten der beiden Frauen und Kinga zusammenhängen, das erzählt Ulrike Draesner atemlos und mitreißend auf über 600 Seiten. Dabei bewegt sich dieser Roman sprachlich auf höchstem Niveau: Draesner findet Worte für das Verstummen, mischt deutsche, polnische und schlesische Wörter und Redewendungen virtuos.
Clemens J. Setz: "Monde vor der Landung"
Mit "Monde vor der Landung" stellt uns der österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz den tragischen Eigenbrödler und Verschwörungstheoretiker Peter Bender vor. Er war Anhänger der sogenannten Hohlerde-Theorie und glaubte an sich als einen neuen Propheten. Setz rekonstruiert dieses Leben einfühlsam und ideenreich mit all den Kriegstraumata aus dem Ersten Weltkrieg, den Diskriminierungen zur Zeit der Weimarer Republik bis hin zur Vernichtung im Nationalsozialismus. Ein packendes Plädoyer für die Toleranz von Andersdenkenden. Oft sind nicht sie die Gefahr, sondern die Gesellschaft, in der sie leben.
Dirk Gieselmann: "Der Inselmann"
"Der Inselmann" erzählt die Geschichte eines Kindes, das mit seinen Eltern Anfang der 60er-Jahre auf einer abgelegenen Insel heranwächst, bis die Schulbehörde es aus den natürlichen Zusammenhängen mit Bäumen und Wasser, Tieren und Gesteinen herausreißt und den Jungen in eine Einrichtung für Schwererziehbare einweist. Die Traumwelt zerbricht, bleibt aber in all den Jahren bis zum Erwachsenenalter als Sehnsucht erhalten. Dirk Gieselmanns Debüt ist ein Roman mit vielen zarten Tönen über eine Odyssee der besonderen Art, über Einsamkeit und Eigensinn.
Annette Pehnt: "Die schmutzige Frau"
Eine sterile Neubau-Wohnung über den Dächern der Stadt: Wenig geschieht, niemand taucht auf, nichts gibt es zu tun. Das ist die öde Realität für die Ich-Erzählerin in Annette Pehnts neuem Roman. Die Rollen sind klar verteilt: Er, der intellektuelle, akkurate Gutverdiener, unterdrückt subtil-aggressiv seine devote Frau. Dabei ist sie ihm geistig mindestens ebenbürtig. Reden soll sie jedoch nur auf sein Stichwort. Bedrückend ist der Selbsthass der Erzählerin. Man will sie schütteln, wenn sie sich unnötig kleinmacht und in endlosen Schleifen die Fehler allein bei sich sucht. Doch langsam bahnt sich die Erkenntnis darüber den Weg durch den Roman.
Michael Köhlmeier: "Frankie"
Im Alter wird die Publikationsliste immer schneller immer länger: Michael Köhlmeier, einer der ganz Großen der österreichischen Literatur, hat offenbar noch so viel zu erzählen. In "Frankie" erzählt er von einem Jugendlichen aus Wien, dessen Leben völlig durcheinander gerät, als sein Großvater nach vielen Jahren im Gefängnis wieder frei ist. Der Junge hat Angst vor dem unbekannten Alten. Aber er ist auch fasziniert vom großen Geheimnis des langjährigen Sträflings: Was genau hat er verbrochen - und warum? Rebellion, Freiheit und die Faszination des Bösen - eine neue Variation der großen Köhlmeier-Themen.
Juli Zeh und Simon Urban: "Zwischen Welten"
Nachdem sie in "Unterleuten" gewesen ist und "Über Menschen" geschrieben hat, begibt sich Juli Zeh dieses Mal "Zwischen Welten". Ihren neuen Roman hat sie gemeinsam mit Simon Urban geschrieben. Schon während des Germanistikstudiums haben Stefan und Theresa in ihrer WG viel über Politik diskutiert und gestritten. Dann hat Theresa den Hof ihres Vaters übernommen, Stefan ist stellvertretender Chefredakteur und Leiter des Kulturressorts bei der renommierten Hamburger Wochenzeitung "Der Bote" geworden. Als sie sich nach zwanzig Jahren zufällig wieder über den Weg laufen, endet ihr erstes Wiedersehen in einem Desaster. Die beiden beschließen, noch einmal von vorne anzufangen. Es entsteht ein offener und sehr emotionaler Austausch über polarisierte Fragen wie Klimapolitik, Gendersprache und Rassismusvorwürfe.
Raphaela Edelbauer: "Die Inkommensurablen"
Mit großer Spannung wurde der neue Roman von Raphaela Edelbauer erwartet. "Die Inkommensurablen" erzählt vom fiebrig-erregten Leben in der österreichischen Hauptstadt kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Hans, ein junger Mann, stapft am letzten Julitag 1914 durch die riesige Stadt. Der große europäische Krieg ist ganz nah, diese menschengemachte Katastrophe. In Wien, diesem brodelnden Kessel, in dem neue, umstürzlerische Ideen sich mit der althergebrachten Habsburger-Verschnarchtheit mischen, überwältigt ihn dann die komplett neue Erfahrung eines Lebens in Prunk und Verschwendung und erotischer Freizügigkeit. "'Die Inkommensurablen' wirkt reichlich überkonstruiert", meint Alexander Solloch von NDR Kultur. "Ein toller Roman voll Zeitkolorit, der die wichtigen Fragen der damaligen Zeit aufgreift", hält eat.Read.sleep.-Podcast-Host Jan Ehlert dagegen. Am besten, Sie entscheiden selbst.
Arno Geiger: "Das glückliche Geheimnis"
Bereits erschienen ist der neue Roman von Arno Geiger. Der wundervolle Erzähler aus Vorarlberg überrascht uns zwölf Jahre nach "Der alte König in seinem Exil" wieder mit einer ganz persönlichen Geschichte: Wir erfahren, wie Arno Geiger beim Versuch, Schriftsteller zu werden, immer wieder gegen eine Mauer rannte, wie er die Liebe fand und eine Art Doppelleben führte. Einer, der am Abend im Fernsehen auftrat und sich am nächsten Morgen auf der Müllstation tiefstmöglich in den Papiercontainer hinabbeugte. Auf der Suche nach Interessantem, nach Hinterlassenschaften, die Arno Geiger nicht zu Brei zerstampft wissen wollte: weggeworfene Bücher, Brief-Konvolute, Tagebücher.