Buch-Cover: Harro Zimmermann - Günter Grass © Osburg Verlag
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AUDIO: Lebenswerk und Wirkung als Intellektueller: Neue Biografie über Günter Grass (9 Min)

Lebenswerk und Wirkung als Intellektueller: Neue Biografie über Günter Grass

Stand: 25.07.2023 11:30 Uhr

Der Literaturwissenschaftler Harro Zimmermann beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Leben und Werk von Günter Grass. Heute erscheint seine ausführliche Biografie über den Literaturnobelpreisträger.

Herr Zimmermann, so eine Figur wie Günter Grass gibt es überhaupt nicht mehr in der politischen Linken oder?

Harro Zimmermann: Ja, die hat ja eine etwas schwächliche Erscheinungsform in diesen Tagen. Und auch die Kultur hat im Grunde kaum mehr etwas zu sagen. Es ist vielmehr so, dass wir unter der Expertokratie allerseits leiden: Ein Experte gibt dem anderen die Klinke in die Hand - da fehlt ein Gesicht, da fehlt jemand, der dafür einsteht, was er sagt, der Vertrauen schafft, der eine gewisse Integration der Meinungsbildung erzeugen kann, natürlich auch im Für und Wider. Da fehlt uns durchaus jemand, der aus der Tradition kommend auch Kontinuitäten verkörpert. Den haben wir nicht, aber den hatten wir mal.

In den 60er-Jahren hat er die Kritik der 68er-Bewegung aufgenommen, hat gesagt: "Liebe SPD, das muss Teil eures Wahlkampfs, eurer Politik sein. Das ist das Salz in der Suppe." Was würde er denn heute zum Beispiel zur "Letzten Generation", zu Klimaaktivistinnen und -aktivisten sagen?

Buchtipp

Günter Grass
von Harro Zimmermann
Osburg Verlag
944 Seiten
ISBN: 978-3-95510-332-3
49 Euro

Zimmermann: Er würde sicherlich Verständnis entwickeln für die Protestenergie, die da zum Ausdruck kommt. Aber Grass ist nie einer gewesen, der irgendeine Form von Gewaltförmigkeit goutiert hätte. Er hätte an die Tradition der deutschen Friedfertigkeit erinnert, vor dem Hintergrund der Schuldgeschichte, der Gewaltgeschichte der Deutschen. Es wäre ihm ganz sicher das schlimmste aller Stichworte wieder eingefallen: "Vor dem Hintergrund von Auschwitz müssen wir anders mit politischen Reformen, Eifer oder mit Protest umgehen, als das diese Generation tut. Das hat er 1968 auch schon so bewiesen. Er war ja keineswegs ein Verächter der 68er, sondern er hat die SPD und überhaupt die politische Kultur in der Bundesrepublik immer wieder gedrängt, diesen Protest ernst zu nehmen, weil er durchaus etwas Problematisches an der politischen Kultur der Deutschen zum Ausdruck gebracht habe. Ich glaube, dass er das in ähnlicher Weise auch jetzt wieder sehen würde.

2006 hat sich Günter Grass erstmalig dazu bekannt, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein. Viele meinten damals: Es ist vorbei mit der moralischen Instanz. Wie ist Ihre jetzige Sicht auf damals, mit diesem zeitlichen Abstand?

Zimmermann: Ich glaube, dass stimmt, was ich da als Fazit formuliere, dass es ein Auseinanderdriften der veröffentlichten Meinung und der öffentlichen Meinung der Bevölkerung damals gegeben hat. Natürlich haben die Kritiker unglaublich drauflosgeeifert und haben den Grass verprügeln wollen - Peter Handke zum Beispiel -, haben ihn zu einer Schandfigur erklären wollen, zu einem furchtbaren Heuchler und Antimoralisten und so weiter. Im Ergebnis dieser Debatten lief aber ein anderer Diskurs in den Zeitungen. Da wurde nämlich durch viele Leserbriefe klar, was eigentlich die Menschen in Deutschland von der ganzen Sache gehalten haben. Da hat sich deutlich gezeigt: Es ist von den meisten Menschen Verständnis dafür aufgebracht worden, dass ein 17-Jähriger zwangsrekrutiert wird zur Waffen-SS, dass der dort keine Pogrome oder dergleichen veranstaltet hat, sondern überhaupt nicht zum Schuss gekommen ist, weil er an der Front permanent gejagt worden ist. Das ist das eine.

Übler genommen hat man ihm die Tatsache, dass er es nicht über sich gebracht hat, nach drei, vier, fünf Jahrzehnten etwas zu seiner Verstrickung in die Waffen-SS zu sagen. Das hat er nicht vermocht. Aber das hat, wenn man es genau nimmt, auch wieder historische Gründe. Denn es gab in Deutschland sehr wohl seit den 60er-Jahren so etwas wie eine Verdachtskultur. Um Himmels willen: Wenn Grass 1968 gesagt hätte, er sei bei der Waffen-SS gewesen, wäre das der reine Horror gewesen. Da wäre vieles zusammengebrochen, was er aufgebaut hatte an Diskurskonstellationen, an Gruppenbeziehungen und dergleichen. Das darf man also auch heute noch nicht unterschätzen, wie schwierig es für ihn war, sich zu bekennen.

Auf der anderen Seite muss man wiederum sagen, dass sein gesamtes Werk voller verlarvter Schuldbekenntnisse steckt. Das beginnt mit der "Blechtrommel", mit dieser komisch verkappten, verlarvten Figur des Oskar, und das endet immer noch nicht in den späten Romanen oder im "Aus dem Tagebuch einer Schnecke" beispielsweise. Überall geht es um schuldhaftes Verhalten von einzelnen. Das sieht man heute natürlich mit anderen Augen und mit mehr Aufmerksamkeit.

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Ich habe diese Phase damals als Kabarett-Redakteur des Deutschlandfunks erlebt und war selber ganz disparat. Einerseits hätte er das doch früher sagen müssen - und andererseits durfte jeder Franz und jede Hänsin plötzlich Witze über Günter Grass machen.

Zimmermann: Er ist freigegeben worden als Schießbudenfigur auf der einen Seite und als großer, unmoralischer und selbstischer Autor, der im Grunde nichts anderes vorhatte, als die große Nummer mit seiner Autobiografie zu machen, als sei das Ganze so etwas wie ein Gag, wie der Versuch, besonders viel Quote zu machen und besonders viel Geld zu verdienen. Das ist eine ziemlich schlimme Angelegenheit, aber das ist nicht ungewöhnlich im Hinblick auf die gesamte Rezeptionsgeschichte von Grass, der ja alles erlebt hat, von himmelhochjauchzend zur schlimmsten Beschuldigung als ein unwerter Mensch. Die Rezeption hat ungeheure Tiefpunkte erreicht. Mir kam es deswegen darauf an, zu zeigen, dass Grass kein Leichtgewicht war, sondern dass er ein hochkarätiges literarisches, ästhetisches und auch philosophisches, politisches Werk geschaffen hat, das man ernst nehmen sollte, weil es viel über uns besagt. An seinem Werk kann man studieren, welche Mentalitätsgeschichte, welche Diskursgeschichte wir in der Republik hinter uns haben, auf der wir heute aufsitzen.

Für wen haben Sie diese üppige Biografie geschrieben?

Zimmermann: Ich hoffe, für viele Leser. Ich habe mich bemüht, in der Darstellung das erzählerische Element mit dem analytischen Element zu verbinden. Ich wollte ein eingängiges Buch schreiben, den Menschen klarmachen, was da für eine Literatur, für ein Werk vorliegt. Grass kommt aus den Tiefen der historischen Erschütterung der Deutschen. Nach 1945 war ein riesenhafter Bruch entstanden. Aus dem heraus hat dieser junge Mensch alles geschöpft und hat ein Werk der Unsicherheit geschaffen, wie Salman Rushdie ihm gezeigt hat. Und das musste deutlich werden.

Genauso deutlich musste auf der anderen Seite werden, welche gedankliche, philosophische, ästhetische Tiefe dieses Werk hat und was der Mann für Traditionen aufgearbeitet hat: aus dem Humanismus, aus der Barockliteratur, aus der Aufklärung, der Romantik. Ich habe versucht, diese Traditionsstränge deutlich hervorzuheben, um klarzumachen: Hier ist ein hochrangiges Gegenwartswerk entstanden, das in tiefen deutschen Kultur- und Geistestraditionen ruht und daraus einen Gutteil seiner Kraft geschöpft hat.

Das Interview führte Mischa Kreiskott.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal Gespräch | 25.07.2023 | 14:20 Uhr

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