Jan Wagner über den Apfel in der Poesie: "Von hoher Symbolkraft"
Den Georg-Büchner-Preis und viele andere wichtige literarische Auszeichnungen hat Jan Wagner bereits erhalten. Denn er schreibt nicht "bloß" über vermeintlich einfache Dingen wie Alltagsgegenstände, Tiere oder auch Obst. Bei ihm stets ein besonderer Kniff dabei.
Als Autor von Gedichten ist Jan Wagner sehr erfolgreich. Seine Poesie stand schon auf den Bestsellerlisten. 2022 verlieh ihm die Uni Bielefeld die Ehrendoktor-Würde.
Herr Wagner, der Apfel taucht in einigen Ihrer Gedichte auf, zum Beispiel dichten Sie ihm einen "äquator von süße" an oder schreiben: "apfel und birne reiften ihrem namen zu, einer schlichten süße". Was ist so poetisch an einem Apfel?
Jan Wagner: Das sind beides Gedichte, die nicht dem Apfel direkt gewidmet sind. Das eine ist ein Quitten-Gedicht, wo die Einfachheit des Apfels mit der Quitte verglichen wird, die erst erobert werden muss. Und das andere ist ein Gedicht über Hölderlin, bei dem keine Quitte im Werk auftaucht, aber immer wieder der Apfel. Der Apfel ist trotzdem lyrisch sehr interessant und taucht in vielen Gedichten auf, auch bei mir, weil er einerseits die gewöhnlichste Frucht ist - es ist die Frucht, die jeder kennt. Und gleichzeitig ist der Apfel von hoher Symbolkraft und in der ganzen Literatur- und Kunstgeschichte immer wieder an zentraler Stelle zu finden. Er hat also beides, das ganz Gewöhnliche, Alltägliche - der Apfel hängt immer irgendwo in der Nähe - und gleichzeitig etwas Magisches: erstens wegen seiner Leuchtkraft, aber auch wegen der Apfelblüte, die im Jahr als Erstes kommt.
Wann haben Sie das erste Mal über den Apfel geschrieben?
Wagner: Das weiß ich nicht mehr genau. Die beiden Gedichte, die Sie genannt haben, sind gar nicht so alt. Es gibt ein Gedicht, das nur dem Apfel gewidmet ist - allerdings ist das einem erfundenen Dichter untergeschoben, einem Bauerndichter, der die Apfelernte beschreibt.
Einerseits ist Lyrik die abstrakteste Form der Literatur, die, die wir kennen. Und andererseits schreiben Sie häufig über recht alltägliche Dinge. Können Sie erklären, wie das entstanden ist?
Wagner: Ich glaube nicht, dass Lyrik abstrakt ist. Die großen Gedichte und die großen Dichterinnen und Dichter, die ich liebe, sind eigentlich immer sehr nah am Alltag und am Leben der Menschen. Lyrik behandelt eigentlich immer genau das, was uns alle umtreibt. Ob es die großen Themen sind wie die Liebe, der Tod, oder die kleinen Dinge wie der Apfel. Am schönsten ist es, wenn die scheinbar abstrakten Sachen wie Liebe und Tod mit dem ganz konkreten, knackigen Apfel, der über uns im Gezweig hängt, zusammenkommen. Es gibt große Gedichte, die genau das schaffen, zum Beispiel eins von William Carlos Williams, dem großen amerikanischen Dichter, der über Pflaumen geschrieben hat, aber auch über Äpfel. Das ist ein Gedicht, das "Vollkommenheit" heißt und das den schon abgenagten Apfel, der irgendwo auf einem Brückengeländer liegt, in seinem Faulen, aber auch in seinem Störrisch-Sein, in seiner Beharrlichkeit feiert. Da kommt alles zusammen: die Perfektion, die Dauer, das Vergehen, aber gleichzeitig auch das ganz Gewöhnliche eines Apfels auf einem Brückengeländer.
Ich glaube, Lyrik ist nicht abstrakt, sondern oft sehr sinnlich, sehr konkret. Natürlich benutzt sie genau die Sprache - und das ist das Herrliche an Lyrik -, die wir alle jeden Tag benutzten, um Brötchen zu kaufen oder Äpfel zu kaufen. Das Material der Lyrik ist die Sprache, die wir alle kennen. Sie ist wunderbar dazu geeignet, all das aufzugreifen, was uns alle beschäftigt - ob's die großen Themen sind oder die vermeintlichen Winzigkeiten wie Früchte.
Wenn Sie nicht beherzt in einen Apfel beißen, was würden Sie daraus kochen oder backen?
Wagner: Apfelkuchen natürlich, Apfelgelee ist auch herrlich. Aber am schönsten ist es, einen Apfel einfach zu pflücken, gerade wenn es geregnet hat, und den kalten Apfel direkt zu essen - wenn man ihn erreichen kann. Emily Dickinson schreibt wunderbare, kurze, knappe und sehr rätselhafte Gedichte, sie ist aber auch immer sehr nah dran am Alltäglichen. Von ihr gibt es ein Gedicht, wo sie sagt: Der Himmel ist das, was ich nicht erreichen kann. Der Apfel am Baum, vorausgesetzt er ist so hoffnungslos hoch, dass ich ihn nicht erreichen kann, ist dann der Himmel für mich. Da kommt plötzlich beides zusammen: der hohe, unerreichbare, metaphysische Himmel und der Apfel, der kühl am Zweig hängt und kaum oder gar nicht erreichbar ist.
Das Gespräch führte Mischa Kreiskott.