Hanna Mittelstädt und ihr Leben für das Buch
Anfang der 1970er Jahre steigen Hanna Mittelstädt, Lutz Schulenburg und Pierre Gallissaires in die Verlagsbranche ein, werden zu Büchermachern und gründen die Edition Nautilus. Wie der Verlag entstand, erzählt Hanna Mittelstädt bei NDR Kultur à la carte.
Ihre Idee war die "revolutionäre Vision", Unabhängigkeit, Spielfreude und das "richtig gute Buch". Ihre politischen Ideen werden zum unverwechselbaren Programm mit Autoren wie Abbas Khider, Deniz Yücel oder Andrea Maria Schenkel. Zehn Jahre nach Lutz Schulenburgs plötzlichem Tod am 1. Mai 2013 blickt die Autorin, Verlegerin, Übersetzerin Hanna Mittelstädt zurück auf die ersten vierzig Jahre Nautilus. Das macht sie mit ihrem Buch "Arbeitet nie! Die Erfindung eines anderen Lebens". In NDR Kultur à la carte spricht sie über eine bewegte 40-jährige Verlagszeit. Einen Auszug lesen Sie hier, das ganze Gespräch hören Sie bei NDR Kultur à la carte.
Es war Anfang der 1970er-Jahre, da waren Sie ungefähr 20 Jahre alt. Sie saßen gerne in einem Keller im Karoviertel in Hamburg. Die Wände waren schwarz gestrichen und dort waren die Anarchisten unterwegs. Sie haben diskutiert und zugehört. Da trafen Sie Lutz Schulenburg und Pierre Gallissaires und diese beiden haben einen entscheidenden Einfluss auf Ihren Lebensweg genommen, beziehungsweise Ihre Entscheidung mitzugehen und zu sagen: Wir wollen bestimmte Literatur lesen, wir wollen Schriften lesen, die gibt es nicht auf Deutsch und wir übersetzen sie und versuchen sie so zu vervielfältigen, dass andere auch etwas davon haben. Daraus wurde dann 1974, ganz offiziell mit der Beantragung des Gewerbescheins, die Edition Nautilus. Ein heute legendärer Verlag, sehr links, Anarchie, Surrealismus mit verschiedensten Einflüssen. Gleichzeitig wurde immer, das entnehme ich Ihrem Buch, über die Zeit im Verlag geschrieben, viel gelesen und wahnsinnig viel darüber gesprochen. Was überwog denn: Das Reden, das Schreiben oder das Lesen?
Hanna Mittelstädt: Da überwog nichts, das war in einem kompakten Gewebe. Wir haben Übersetzungen für Bücher gemacht, die wir lesen wollten. Lutz Schulenburg und ich waren ein Liebespaar, also diese Verbindung war spontan und sehr intuitiv. Der dritte Verlagsgründer Pierre Gallissaires kam aus Frankreich und war 20 Jahre älter als wir. Der kam mit dem Gepäck einer französischen Kultur und revolutionären Idee, auch aus der Praxis des Mai 1968, was in Frankreich keine Studentenbewegung war, sondern ein riesiger Generalstreik, mit elf Millionen wilden Streikenden ohne Parteien und Gewerkschaften. Diese Erlebnisse der Selbstermächtigung einer anderen Vorstellung, eines Lebens außerhalb der Arbeit, das brachte Pierre neben den Surrealisten, neben den Situationisten, neben Dada und all solchen tollen Sachen mit. Wir hatten als junge Menschen höchstens davon gehört.
Wir drei passten gut zusammen. Ich konnte auf der Schreibmaschine mit zehn Fingern blindschreiben, Lutz war sehr impulsiv, wagemutig und abenteuerlustig und Pierre hatte die inhaltliche Kompetenz. So haben Pierre und ich angefangen zu übersetzen. Das wurde aber natürlich immer von den Genossen drumherum diskutiert. Wir waren nicht nur ein Tandem, sondern es wurden doch sehr schnell fluide Kollektive gebildet, die in diesen Arbeitsprozess eingebunden waren. Es wurde dann auch über diese Dinge gesprochen: Gibt es diese Position des Surrealisten? Kann man das machen? Wie verhält sich das zur revolutionären Idee? Oder wie sind die Situationisten mit ihrer strengen Kritik an der Warengesellschaft in Ost und West? Was macht das mit uns, die wir eigentlich aus dem anarchistischen Milieu kamen? Aber Milieu heißt, wir hatten gerade mal ein Jahr oder so Zeit gehabt, uns Milieu zu nennen, dann bewegten wir uns schon wieder daraus, mit unserer Initiative diesen Verlag zu gründen. Und zwar unmittelbar, nachdem wir uns gesehen haben, nicht erst 1974, sondern unser erstes Verlagsprogramm war 1973. Wir haben uns 1972 kennengelernt, 1973 stand bereits das erste Programm, welches wir auch nicht Verlagsprogramm nannten, sondern das waren Bücher, die wichtig waren. Dafür war es wichtig, einen Gewerbeschein zu haben, damit man da nicht in die Fänge der Bürokratie geriet.
Die Fragen stellte Martina Kothe. Das ganze Gespräch hören Sie bei NDR Kultur à la carte.