Dry January: "Man muss sich erklären, weil Trinken die Norm ist"
Die Berlinerin Podcasterin, Illustratorin und Autorin Mia Gatow erzählt im Gespräch, wie sie den Weg aus ihrer Alkoholabhängigkeit gefunden hat und was Alkohol mit unserer Gesellschaft macht.
Wie empfinden Sie diesen Dry January, wo das Ritual gepflegt wird, dass man vier Wochen nichts trinkt, und alle Zeitungen schreiben darüber?
Mia Gatow: Es ist natürlich erstmal zu begrüßen, dass die Leute sich mit ihrem Konsum auseinandersetzen. Da das so ein kollektives Unterfangen ist, ist der Vorteil, dass es okay ist, das eigene Trinken zu hinterfragen und vielleicht auch zuzugeben, dass es in letzter Zeit ein bisschen viel war. Das ist also so eine Gruppen-Experience, und es ist okay, dass man sich das fragt - was normalerweise nicht so ist. Normalerweise darf man kein Problem haben, weil dann hat man ein Problem.
Andererseits ist es so, dass total viele Leute - und ich habe früher auch dazugehört - Trinkpausen machen, um sich selber zu beweisen, dass sie kein Problem haben. Wenn Sie also diesen Dry January durchstehen, dann haben sie sich selber das Etikett verliehen: nicht süchtig und nicht problematisch. Deswegen kann man dann weiter trinken. Das zementiert so eine Idee von Sucht und Abhängigkeit, die nicht so richtig stimmt.
Wann haben Sie festgestellt, dass Sie etwas ändern und nicht mehr trinken möchten?
Gatow: Das war ein langsamer, langer Prozess. Das war nicht der eine große Knall, es gab keinen gefährlichen Absturz, Führerscheinverlust oder irgendetwas in dieser Art. Sondern das war die Einsicht, dass ich meine eigenen Regeln, die ich mir ständig gemacht habe, so oft breche, dass ich mich nicht darauf verlassen kann, dass sie halten. Dadurch habe ich das Gefühl gekriegt, dass ich nicht souverän bin. Dieser Verlust der Souveränität hat auch etwas an meinem Selbstwert gemacht.
Ich dachte, wenn ich es nicht schaffe als erwachsene Person, diese simple Sache, diese Substanz, die ja eigentlich keine Probleme machen darf, sein zu lassen, dann habe ich ein grundsätzliches Problem mit mir und meinem eigenen Wort und meiner Unabhängigkeit. Das ist mir immer unterschwellig klar gewesen - deswegen habe ich die Regeln ja gemacht. Aber irgendwann hatte ich das Glück, dass ich diesem Gedanken genug Raum gegeben habe, um mir selber zuzugestehen: "Vielleicht ist das Problem doch gar nicht so klein, wie du denkst. Vielleicht ist das Problem so groß, dass du es jetzt mal richtig ernst nehmen kannst." Und dann habe ich das gemacht.
Ich fand den Satz, den ich von Ihnen gelesen habe, sehr interessant: "Zur Alkoholikerin wird man in unserer Gesellschaft erst, wenn man nicht mehr trinkt." Können Sie das erläutern, wie Sie das meinen?
Gatow: Das kennt wahrscheinlich jeder Mensch, der mal wegen Autofahren, Antibiotika oder Schwangerschaft mal auf einem Event, wo alle anderen trinken, nicht getrunken hat. Man muss sich erklären, weil Trinken die Norm ist.
Wir haben eine Gesellschaft, in der das Trinken so stark normalisiert und akzeptiert ist, und in der man auch ermutigt wird mitzumachen, weil das so ein Gruppending ist, dass man erstmal auffällt, wenn man das nicht macht. Und wenn man das nicht macht, weil man mal süchtig war, dann ist es einfach für die anderen Leute zu sagen: "Ah, okay, du darfst nicht, du bist was anderes, mit dir ist irgendwas, du bist nicht normal, dass du das nicht verträgst, so wie wir alle das vertragen."
Da fängt die Stigmatisierung an, dass man eine giftige Substanz normalisiert, obwohl kein Körper dafür gemacht ist, diese Substanz auszuhalten. Das ist wirklich ein sehr gefährliches Gift. Das Problem ist nicht unbedingt, dass die Leute das machen, um sich zu betäuben - das kann ja jeder selber entscheiden -, aber dass suggeriert wird: "Wenn du das nicht kannst oder nicht willst, dann bist du das Problem!"
Ich wundere mich, dass es offensichtlich noch so häufig passiert, dass Menschen angesprochen werden, wenn sie nicht trinken. Warum ist das wohl so, dass man daran festhält, obwohl man schon sehr früh lernt, dass man das einfach akzeptieren sollte?
Gatow: Ich habe das Gefühl, dass es langsam ein bisschen besser wird. Es spricht sich langsam herum, dass man sich nicht erklären muss. Dieses "Trink doch einen, sei doch kein Spaßverderber!" kommt von Leuten, die selber ein Problem mit dem Trinken haben, es aber nicht angucken wollen. Ein Mensch, der ein unproblematisches Verhältnis mit dem Alkohol hat, wird nicht sagen: "Du musst jetzt mittrinken, sonst macht es keinen Spaß!"
Das machen nur Leute, die selber ihr Verhältnis mit dem Alkohol nicht auf der Reihe haben. Die brauchen das, dass die anderen mittrinken. Die haben ein Störgefühl, und das Störgefühl wird schlimmer, wenn sie alleine trinken. Deswegen sind die so daran interessiert, dass alle anderen mittrinken.
In Ihrem Buch "Rausch und Klarheit" schreiben Sie von einem "Berliner Power-Leben". Das muss sich doch mit dem Stopp des Trinkens krass verändert haben, oder?
Gatow: Ja, klar. Das Nachtleben ist natürlich extrem alkohol- und auch drogengetränkt. Das ändert sich wahrscheinlich, wenn man im Nachtleben nüchtern wird, extrem. Aber bei vielen Leuten ist es so - und ich war da keine Ausnahme -, dass man ganz automatisch mit dem Nachtleben aufhört. Ich habe aufgehört, in Bars zu arbeiten, weil es einfach ein fürchterlich anstrengender Job ist, der sich damals auch finanziell nicht gelohnt hat.
Irgendwann fängt man an, tagsüber wach zu sein und nachts zu schlafen. Viele Leute bekommen Kinder, gründen Familien, und dann verlagert sich das Leben eher auf den Tag. Die Lebensumstände werden mit steigendem Alter automatisch oft ein bisschen bürgerlicher. Selbst wenn ich jetzt noch trinken würde, würde ich nicht mehr drei Tage im Club sein - ich mache jetzt andere Sachen.
Suchtmediziner wie Gernot Rücker sagen: Menschen brauchen Rausch, aber es muss nicht unbedingt dieser Alkohol sein - das ist ein Nervengift. Wie sehen Sie das?
Gatow: Ich würde nicht sagen, dass Menschen Rausch brauchen; ich glaube nicht, dass man das pauschalisieren kann. Aber Rausch ist irgendwie so ein natürlicher Teil des Lebens. Wir sind selten komplett nüchtern in dem Sinn, dass uns nichts beeinflusst.
Die meisten Leute trinken Kaffee oder kennen eine Art von Rauschzustand beim Arbeiten, beim Sport oder in der Verliebtheit. Es gibt alle möglichen Ausnahmezustände, die man auch ohne Substanzen erreichen kann. Der Alkohol ist das Gift, auf das wir uns alle geeinigt haben, und es ist ein besonders gefährliches -verglichen mit anderen Substanzen. Deswegen würde ich da zustimmen: Es muss nicht der Alkohol sein - man kann sich das auch woanders holen: Man kann auch Fallschirmspringen.
Was können wir alle tun, um diese Normalität des Alkoholkonsums ein bisschen rauszunehmen?
Gatow: Ein guter Anfang ist, andere Leute nicht mehr zu fragen, warum sie nicht trinken. Wenn jemand erzählt, dass er oder sie aufgehört hat zu trinken, die Person nicht zu bemitleiden, sondern zu beglückwünschen, so wie wir es auch bei den Zigaretten machen. Da sagen wir auch: "Cool, voll schön für dich!" Beim Alkohol sagen wir: "Oh, warum denn? Nicht mal zum Essen? Darfst du das jetzt nicht mehr?" Davon sollten wir wegkommen. Wir sollten anfangen, den Alkohol so zu behandeln wie auch den Tabak - da wäre schon viel getan.
Das Gespräch führte Mischa Kreiskott.