Das Marschland: Ein Gebiet voller Geheimnisse
Nur auf den ersten Blick ist Marschland flach und unscheinbar - bei näherem Hinsehen steckt es voller Geheimnisse. Das schreibt der Sozial- und Kulturhistoriker Norbert Fischer in seinem Buch "Marschland".
Im Gespräch mit Jürgen Deppe erklärt Fischer die historische Bedeutung der Region mit ihrem ausgeklügelten Entwässerungssystem, erläutert die Faszination der einzigartigen Vogelpopulation und beschreibt, wie Naturschützer und Landwirte heute um den richtigen Umgang mit dem Marschland ringen: Wildnis oder Wirtschaft?
Marschland ist ja eigentlich ziemlich öde: keine Hügel oder Berge, kaum Bäume oder gar Wälder, hier und da mal ein Gehöft oder eine Siedlung - ansonsten herrscht (mindestens bei schlechtem Wetter) eine ziemliche Tristesse. Trotzdem, schreiben Sie, ist das Marschland voller Geheimnisse. Welcher denn?
Norbert Fischer: Das Marschland hat natürlich auch Unebenheiten. Es gibt keineswegs nur flaches Land, wir haben zum Beispiel Deicherdeentnahmestellen, die sich zu kleinen Gewässern ausgebildet haben - ein sehr schöner Schauplatz für Watt- und Wasservögel. Wir haben den stets wechselnden Umgang mit dem Wasser; denn eines der großen Probleme der Marsch ist die Entwässerung. Marsch ist entstanden, weil Deiche um fruchtbares Land herumgezogen wurden. Das bedeutet, dass das Wasser der Nordsee oder der tideabhängigen Flüsse, wie der Elbe, der Weser oder der Ems, bei Flut nicht ins Land kommen können. Aber es bedeutet auch, dass das Binnenwasser, das Regenwasser zum Beispiel, nicht abziehen kann. Deswegen gibt es in der Marsch ein ganz ausgeklügeltes System von Wehren, Schotten und Schleusen, die dieses Wassermanagement regeln. Allein dies zu beobachten ist sehr spannend.
Wir wissen, dass das Meer unbezähmbar ist. Es kann auch sehr wild sein, mindestens bei Sturmfluten. Was hat Menschen zum Teil schon Jahrhunderten dazu gebracht, diesen Naturgewalten die Stirn zu bieten?
Fischer: Die Menschen haben gesehen, dass sie einen äußerst fruchtbaren Brunnen haben, den sie saisonunabhängig bewirtschaften konnten. Sie wollten möglichst viel von diesem Boden bewirtschaften können. Sie wollten siedeln, nicht nur auf den Wurten, sondern auch in der Fläche. Das hat sie in einem schrittweise vollzogenen Prozess dazu gebracht, eine durchgehende Deichlinie an der Nordseeküste und an den gezeitenabhängigen Strömen zu schaffen. Wobei die ersten Deiche um die Wurten selbst herumgezogen wurden; das waren Ringdeiche, um die bewirtschaftbare Fläche auszuweiten. Das Zusammenschließen dieser Ringdeiche zu einer sogenannten goldenen Linie gegen die Küste, gegen die gezeitenabhängigen Ströme hat zu einer kompletten Eindeichung des Marschlandes an der Nordseeküste geführt.
Im Grunde ist das Marschland so etwas wie ein Kampfgebiet. Da kämpft das Meer um die Fläche, die ihm der Mensch genommen hat. Im Laufe der Jahrhunderte sind Tausende Menschen gestorben dafür, dass das Land trocken sein sollte. Ist es diesen Preis wert?
Fischer: Der Marschboden ist ungeheuer fruchtbar, und das war bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ein Standortvorteil, der von unermesslichem Wert war. Wir müssen bedenken, dass wir bis ins 19. Jahrhundert hinein keine Möglichkeiten hatten, den Ackerboden künstlich mit synthetisch hergestelltem Dünger zu verbessern. Da war es von großer Bedeutung, dass die Marsch natürlich gedüngt war aufgrund des amphibischen Zustands vor der Eindeichung. Daher rührt es auch, dass die Marschbauern immer sehr viel reicher waren als die Bauern in der Geest, auf der Heide oder im Moor - das waren immer die armen Leute. Marschbauern haben immer auch versucht, sich untereinander zu verheiraten, um den Besitz zu mehren. Marschbauern hatten auch eine gewisse Hochnäsigkeit gegenüber anderen Bevölkerungsgruppierungen, die aus dem Binnenland kamen. Man sieht es teilweise bis heute an den wohlhabenden Bauerngehöften, an den extrem gut ausgestatteten Kirchen, an den wundervollen Grabmälern, die wir in den Familiengrüften in der Marsch haben, dass hier früher sehr viel Geld waltete. Es gab einzelne Städte, die heute kaum noch bekannt sind, die Zentren des Schmuckhandels waren, wie etwa Otterndorf an der Niederelbe. Fast alle Marschenebiete in Deutschland sind Schauplätze von einer sehr bedeutenden Orgelkultur, weil die Marschbauern sich das leisten konnten, die bekannten Orgelbauer ins Land zu holen, wie Arp Schnitger, der übrigens selber in der Marsch lebte und auch arbeitete.
Heute gelten die Marschen zu großen Teilen als abgehängt: keine Industrie, kaum Gewerbe, mangelnde Infrastruktur, wenig Tourismus. Jungen Menschen fehlt die Perspektive, sie ziehen weg. Sind die von Ihnen beschworenen Marschen heute nicht eher eine Problemregion, in der Landwirtschaft und Naturschutz miteinander ringen?
Fischer: Es herrschen immer die klassischen Konflikte zwischen Naturschutz und Landwirtschaft, dass Flächen ausgedeicht, wiedervernässt werden, dass das von den Bundesländern, vom Staat unterstützt wird, und die alteingesessenen Landwirte nur schwer nachvollziehen können, dass man diese Flächen wieder dem amphibischen Zustand überlässt.
Andererseits sehe ich auch Wechselwirkungen zwischen diesen unterschiedlichen Interessen, die in der Marsch walten. Und ich sehe auch, dass viele davon profitieren können. Denn natürlich ist es so, dass wir die Agrarprodukte, die in der Marsch hergestellt werden, in dieser Menge gar nicht mehr benötigen, weil wir die Produkte von woanders her bekommen. Das Alte Land, eine traditionelle, reiche Marschregion bei Hamburg, war lange Zeit ein Exportgebiet von Obst, vor allem von Äpfeln, und die Äpfel kommen inzwischen aus anderen europäischen Ländern. Insofern haben auch die dort alteingesessenen Familien ein natürliches Interesse daran, sich neue Einkommensquellen zu erschließen.
Ein schon länger bekanntes Beispiel ist Ferien auf dem Bauernhof, was mit klassischer Marschwirtschaft nichts zu tun hat. Wir haben inzwischen im Alten Land, um bei dem Beispiel zu bleiben, eine Institution Maritime Landschaft Unterelbe, wo das ganze klassische wasserbauhistorische Arsenal zu einem kulturellen, technischen Erbe verdichtet und als touristische Route angeboten wird. Wir haben auch Führungen, die etwa in der Zeit des Vogelzuges, also jetzt im Herbst, zu Beobachtungstouren einladen, etwa die Nonnengänse-Tage in der Wesermarsch oder die Wildgänse-Tage in den Elbmarschen. Da gibt es vielerlei Möglichkeiten, alle Bevölkerungsgruppen profitieren zu lassen.
Und wir haben hier möglicherweise auch einen Ansatz, Stadt und Land wieder zu versöhnen. Dass diese klassischen Gegensätze, die gerade in den Marschlanden Manifest waren, aufgehoben werden, weil sehr viele Städter auch aufs Land kommen und andere Interessen, andere Ziele, andere Inhalte mitbringen, die dann wieder zu einem neuen Aufblühen der Marschländer beitragen können.
Das Gespräch führte Jürgen Deppe. Das komplette Interview hören Sie oben auf dieser Seite - und in der ARD Audiothek.