Charles de Coster: "Legende vom Ulenspiegel"
In der zweiten Staffel der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir in 25 neuen Folgen durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Charles de Costers "Legende vom Ulenspiegel", auch bekannt als "Mär vom Uilenspiegel".
Von Hanjo Kesting
Charles de Costers "Ulenspiegel" ist so etwas wie das Nationalepos Belgiens. Das Buch schildert den Freiheitskampf der Flamen gegen die spanische Herrschaft im sechzehnten Jahrhundert (jenen Stoff also, den Goethe in "Egmont" behandelt hat) und macht die legendäre Gestalt des Eulenspiegel zum flämischen Volkshelden. "Ein unvergessliches und unvergängliches Werk" hat Stefan Zweig de Costers Roman genannt: "wie die Ilias urweltlich, kraftvoll und unvergleichlich am Anfange der griechischen Literatur, so steht es einsam und überragend in seiner Zeit. Fünfzehn Jahre hat de Coster an dieses Werk gewandt. Und es ist ein Buch geworden, ein Volksbuch ohnegleichen."
Herkunft des Autors
Der Autor wurde 1827 in München geboren, wo sein Vater Haushofmeister beim päpstlichen Nuntius war. Der Sohn stand einer klerikalen Laufbahn jedoch ausgesprochen fern. Nach einem Jura‑ und Literaturstudium arbeitete er zunächst als Archivar, dann als Bankbeamter, zuletzt als Deutschlehrer in Brüssel, bevor er sich der Literatur zuwandte. Acht Jahre lang lieferte er Beiträge für die satirische Wochenschrift "Uylenspiegel", durch die er mit der Gestalt des Volkshelden vertraut wurde. Und er schuf mit seinen "Flämischen Legenden" und "Brabanter Geschichten" die Grundlage einer eigenständigen belgischen Literatur. Er ließ die alten flandrischen Volkstraditionen wieder aufleben und grenzte sich von der Übermacht der französischen Literatur ab, obwohl er selber in französischer Sprache schrieb. Die "Legende von Ulenspiegel," de Costers 1867 nach jahrelanger Arbeit vollendetes Hauptwerk, begründete seinen dauernden Ruhm, auch wenn dieser Ruhm noch etwas auf sich warten ließ. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Buch in seinem besonderen Rang erkannt und in fast alle europäischen Sprachen übersetzt.
Schelmenroman mit historischem Hintergrund
Man kann es ebenso gut als Schelmenroman wie als historischen Roman bezeichnen. Ulenspiegel, sein Held, wird im Mai 1527 im flämischen Dorf Damme bei Brügge als Sohn eines Kohlenträgers geboren. Zur selben Zeit und fast zur selben Stunde wird auch Philipp geboren, der Sohn Karls V. und spätere spanische König, Ulenspiegels großer Gegenspieler im Roman. Eine Nachbarin, die mit seherischen Fähigkeiten begabte Katheline, prophezeit die Lebenswege des spanischen und des flämischen Kindes: Philipp werde ein Henker werden, Ulenspiegel aber werde unsterblich und jung durch die Welt ziehen. Die Zeit wird geprägt durch die Herrschaft Karls V. und seines Nachfolgers auf dem spanischen Thron, der die Spaltung der Kirche um jeden Preis verhindern will und sich bei der Verteidigung des römisch-katholischen Glaubens noch viel rigoroser verhält als sein Vater.
Das dualistische Bauprinzip des Romans - auf der einen Seite der gewitzte, lebensvolle Ulenspiegel, auf der anderen der grausame, lebensfeindliche Philipp - lässt an Bildkompositionen Pieter Brueghels denken, vor allem an sein großes Kompendium der Laster und der Tugenden. Die Kraft des Malers scheint bei de Coster wiederaufzuerstehen, der mit unerschöpflicher Sprachkraft ein Bild der Epoche entwirft und auch ein Humorist von hohen Graden ist.
"Wohin soll man dieses Buch stellen?" fragte Arthur Holitscher bei Erscheinen der ersten deutschen Ausgabe. Und er gab die Antwort: "Soll man ihn stellen zum Shakespeare und Dante oder zu Dostojewski und Hamsun? Sicherlich zu den zehn Bänden, die man bei sich haben will, wenn man nicht die ganze Bücherkiste mit sich schleppen mag." Auch Alfred Döblin war ein unermüdlicher Anwalt dieses Romans, den er über fast alle anderen Romane erhob, sogar über Balzac, Flaubert, Tolstoi: "dieses herrliche vielgeliebte Werk", schrieb er, sei "längst aus der Ebene der Kunsterzeugnisse in die der Volksbücher aufgerückt". Auch Romain Rolland scheute sich nicht, die höchsten Vergleiche zu wählen: "Ein Zeitungsschreiber, arm und ohne Namen, hat fast vor unseren Augen ein Denkmal aufgerichtet, das mit Don Quijote und Pantagruel wetteifern darf". Heute ist De Costers "Ulenspiegel" fast vergessen, zu Unrecht vergessen, wie man mit leidigem Kehrreim sagen muss.