Porträt Sarah Levy bei einer Veranstaltung zur Einführung der Webseite www.stopantisemitismus.de © picture alliance Foto: Paul Zinken

Autorin Sarah Levy über Israel: "Nie weiter entfernt vom Frieden als jetzt"

Stand: 14.05.2024 06:00 Uhr

Die Buchautorin und Journalistin Sarah Levy ist 2019 von Hamburg nach Israel ausgewandert. Im Interview sagt sie: Seit dem Angriff der Hamas ist Israel, das am Dienstag den 76. Jahrestag seiner Staatsgründung gefeiert hat, ein anderes Land.

Es ist ein besonderer Jahrestag der Staatsgründung Israels an diesem 14. Mai. Denn der 7. Oktober 2023, der mörderische Überfall der Terror-Organisation Hamas auf das Land, hat die Gesellschaft tief getroffen. Vor 76 Jahren wurde der Staat gegründet, als sicherer Ort für Jüdinnen und Juden aus aller Welt.

Der 7. Oktober und seine Folgen

Die Journalistin und Buchautorin Sarah Levy ("Fünf Wörter für Sehnsucht: Von einer Reise nach Israel und zu mir selbst") wanderte Ende 2019 von Hamburg nach Israel aus. Das Rückkehrgesetz macht es möglich: Jeder Mensch mit jüdischer Abstammung hat das Recht, israelischer Staatsbürger zu werden. Heute lebt Levy mit ihrer Familie in Tel Aviv. Sirenenalarm, Luftschutzbunker, Sorgen um die Zukunft: Der 7. Oktober und seine Folgen beschäftigen auch sie. 

Frau Levy, wie schauen Sie heute, im Jahr 2024, auf die Staatsgründung Israels?

Sarah Levy: Dieses Jahr ist es tatsächlich weniger freudig als die letzten Jahre. Ich glaube, als Deutsche ist es immer schwer, wenn man in ein anderes Land kommt, sich in so einen Nationalfeiertag komplett reinfallen zu lassen. Normalerweise ist es ein Tag mit Flugshows, die Leute sind draußen, treffen sich zum Grillen und so weiter. Und dieses Jahr ist alles sehr bedrückt. Die Flugshows fallen aus. Wir haben gesagt, wir werden nur bei der Familie sein. Wir werden miteinander essen, aber im Haus bleiben. Es ist ein sehr bedeutungsschwangerer Tag - und in diesem Jahr ein sehr trauriger. Israel ist jetzt ein anderes Land. 

Im vergangenen Herbst, als der Krieg im Nahen Osten begonnen hatte, sind Sie mit der Familie nach Deutschland geflogen, um Ruhe zu finden. Aber die gab es nicht. Wie haben Sie die Situation in Deutschland erlebt?

Levy: Als wir nach Deutschland gekommen sind, hatte ich erwartet, dass es einfach ein bisschen entspannter für uns wird. Wir sind in den acht Tagen seit Beginn des Krieges mehrmals am Tag in den Schutzraum gerannt. Ich konnte kaum noch schlafen. Deswegen habe ich gedacht, ich komme nach Deutschland, dann habe ich erst mal ein bisschen Abstand. Aber auch da war der Nahost-Konflikt super präsent. Das fing mit Sachen an wie dass überall Palästina-Flaggen waren. Was ich eigentlich okay finde. Aber es kommt halt sonst nicht so oft vor in Deutschland. Dann haben wir Flugblätter ausgeteilt bekommen von irgendwelchen salafistischen Vereinigungen, die "Kindermörder Israel" geschrieben haben und "Würden Sie für Israel sterben?", also in denen die deutsche Staatsräson in Frage gestellt wurde. Das war schon extrem.

Weitere Informationen
Israelis protestieren in Tel Aviv gegen die Pläne der Regierung. © dpa Foto: Ohad Zwigenberg/AP
21 Min

Vom Sehnsuchtsort zur Wahlheimat - und zurück? 75 Jahre Israel

Die Autorin Sarah Levy fragt: Wandelt sich Israel vom demokratischen Staat für Juden aller Facetten zum jüdischen Staat für streng Religiöse? 21 Min

Wir waren von vielen deutschen Juden umgeben in dieser Zeit, die einfach sehr viel Angst hatten. Denn auf diesen Demonstrationen, die zu dem Zeitpunkt stattfanden, wurde zur Auslöschung Israels aufgerufen. Viele Freunde von uns und Freunde meiner Eltern hatten einfach Angst. Zum Beispiel um ihre Kinder, die sie auf die jüdische Schule schicken. Freunde von meinen Eltern haben ein Hakenkreuz auf den Mülleimer gemalt bekommen.

Ich wurde dann viel von meinen deutschen Freunden gefragt: Ist euch denn etwas passiert? Und ich habe immer gesagt: Nein. Wir sind die Generation, die nicht wartet, bis etwas passiert, sondern einfach versucht, die Zeichen vorher zu lesen und zu gucken: Wo sind wir wirklich sicher? Dazu kam noch, dass die AfD in der Zeit als zweitstärkste Kraft in den Hessischen Landtag gewählt wurde. Das war insgesamt einfach sehr beunruhigend. Wir konnten nicht abschalten und den Krieg hinter uns lassen. Es war alles sehr präsent in Deutschland.

Jetzt ist der Jahrestag der Staatsgründung Israels. Wird an dem Tag besonders intensiv darum gerungen oder gestritten, wie ein friedliches oder vielfältiges Zusammenleben überhaupt gelingen kann?

Levy: Wir sind noch nicht einmal an diesem Punkt. Ehrlich gesagt hängt Israel immer noch im 7. Oktober fest. Gerade war der Gedenktag Jom haZikaron, bei dem aller seit der Staatsgründung gefallenen und getöteten Israelis gedacht wird. Und 2023 sind so viele neue Tote dazu gekommen, dass es den ganzen Tag Geschichten im Fernsehen über Menschen gab, die überlebt haben oder über Verwandte von Menschen, die getötet wurden am 7. Oktober. Diese Geschichten verfolgen uns immer noch fast jeden Tag im Fernsehen. Wir hängen immer noch in dieser Trauer fest. Und solange die Geiseln noch nicht wieder raus sind aus Gaza, solange wird das Land nicht abschließen können mit dem 7. Oktober.

Wir sind noch nicht einmal an dem Punkt, wo wir über ein friedliches Zusammenleben sprechen können. Wir sind immer noch dabei, diesen Krieg irgendwie zu Ende zu bringen oder die Geiseln rauszubringen. Das kann man sich in Deutschland gar nicht vorstellen. Das habe ich jetzt auch gemerkt, als wir gerade wieder in Deutschland waren: Die Leute sind schon bei den nächsten Themen. Die haben auch schon das Leid in Gaza hinter sich gelassen. Der Nahost-Konflikt ist da eine Meldung von vielen in den Nachrichten. 

Vielleicht auch, weil man irgendwie einen Hauch Hoffnung haben möchte. In welcher Beziehung haben Sie Hoffnung?

Levy: Ich habe keine Hoffnung. Es tut mir leid, das zu sagen - es klingt furchtbar. Ich hatte jetzt relativ viele Lesungen in Deutschland. Jedes Mal wurde die Frage gestellt: Besteht denn Hoffnung für Frieden zwischen Palästinensern und Israelis? Ich glaube, wir waren noch nie weiter entfernt vom Frieden als jetzt. Da ist eine ganz große Verletzung. Ich kann nicht für die Palästinenser sprechen, aber ich weiß, das bestimmt nicht mehr alle sauer sind auf die Hamas, sondern dass sie natürlich auch sehen, wer die Bomben wirft. Beide Völker sind so verletzt und traumatisiert, nicht nur vom 7. Oktober, sondern auch von der Zeit davor.

Es fehlt nicht einfach nur der politische Wille - der sowieso nicht mehr besteht, ungefähr seit Rabin getötet wurde. Es ist nicht so einfach. Ich fürchte, in Deutschland macht man sich die Vorstellung davon, dass nur jemand da sein müsste, der zustimmt, dass zum Beispiel ein palästinensischer Staat entstehen könnte. Ich glaube, würde es einen palästinensischen Staat geben - und ich bin total dafür, denn das ist die einzige Lösung für diesen Konflikt in den nächsten 100 Jahren - dann würde es einen riesigen Krieg geben. Auch dann. Es ist immer so ein bisschen entrückt, wenn jemand uns hier in Israel nach Frieden fragt zwischen diesen zwei Völkern. 

Das Gespräch führte Philipp Schmid.

Weitere Informationen
NDR Info Schabat Schalom © dpa-report Foto: Tobias Felber
27 Min

Interview mit Sarah Levy in der Sendung Schabat Schalom

Das Magazin Schabat Schalom berichtet aus dem jüdischen Leben mit Nachrichten, Interviews, Berichten und Kommentaren. 27 Min

Die israelische Flagge und die palästinensische Flagge stehen auf einem Tisch, im Hintergrund ist Feuer zu sehen. © imago
6 Min

Israelis und Palästinenser kämpfen für Versöhnung

Israelische und palästinensische Hinterbliebene gedenken gemeinsam der Opfer der Gewalt im Nahost-Konflikt. Daran gibt es Kritik. 6 Min

Krieg und Terror – die Lage im Nahen Osten und der Ukraine © NDR

Krieg und Terror - Die Lage im Nahen Osten und in der Ukraine

Russland führt Krieg gegen die Ukraine, die Hamas greift Israel an. Aktuelle Nachrichten und Berichte in diesem Podcast. mehr

Schilder mit der Aufschrift "Banned" werden bei einer Versammlung von Islamisten in die Luft gehalten. © Screenshot
3 Min

"Muslim Interaktiv": Erneute Kundgebung in St. Georg

Die letzte Kundgebung der als extremistisch eingestuften Gruppe hatte bundesweit große Empörung ausgelöst. 3 Min

David Grossman © picture alliance / Geisler-Fotopress Foto: David Heerde

David Grossmans bewegender Protest gegen den Krieg

Als sich ihr jüngster Sohn freiwillig zu einem Militäreinsatz meldet, flieht Ora aus Tel Aviv. Der Hörspiel-Dreiteiler von Norbert Schaeffer schildert Oras Wanderung durch Israel. mehr

Demonstration © NDR

Deutschland und Israel: Solidarität mit Rechtsradikalen?

Laut Koalitionsvertrag der Ampel ist die Sicherheit Israels Staatsräson. Was bedeutet das angesichts der in Teilen rechtsradikalen und ultranationalistischen israelischen Regierung? mehr

Tom Segev © picture alliance / Robert Newald / picturedesk.com Foto: Robert Newald

Historiker Tom Segev über Nahen Osten: "Konflikt zwischen Identitäten"

Der Experte glaubt, dass die Explosionen in der iranischen Stadt Isfahan durch eine israelische Attacke hervorgerufen wurden. mehr

Olaf Scholz und Benjamin Netanjahu schütteln sich die Hand. © NDR

Solidarität mit Israel: Was heißt das für die Bundesregierung?

Nach dem Angriff der Hamas auf Israel gebe es für Deutschland nur den Platz an der Seite Israels, sagte Kanzler Scholz. Aber heißt das auch bedingungslose Solidarität mit der Regierung Netanjahu? mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 14.05.2024 | 08:20 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Terrorismus

Ein Latte Macchiato, eine Brille und eine Kerze liegen auf einem Buch © picture alliance / Zoonar | Oleksandr Latkun

Bücher 2024: Das waren die interessantesten Neuerscheinungen

Unter anderem gab es Neues von Martina Hefter, Frank Schätzing, Markus Thielemann, Isabel Bogdan oder Lucy Fricke. mehr

Logo vom NDR Kultur Podcast "eat.READ.sleep" © NDR Foto: Sinje Hasheider

eat.READ.sleep. Bücher für dich

Lieblingsbücher, Neuerscheinungen, Bestseller – wir geben Tipps und Orientierung. Außerdem: Interviews mit Büchermenschen, Fun Facts und eine literarische Vorspeise. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Christian Kind steht in seinem Plattenladen hinter der Kasse und lächelt in die Kamera. © NDR Foto: Antonia Reiff

Gerettet durch Crowdfunding: Hamburger Plattenkiste macht weiter

Das Geschäft im Stadtteil Hoheluft versorgt Musikfans mit Vinyl und CDs - doch durch die Corona-Zeit und Schulden stand es kurz vor dem Aus. mehr