Anne Otto: Selbstbewusst durch unsichere Situationen steuern
Wir alle sind mal unsicher, das kann in verschiedenen Situationen sein. Zum Beispiel beim Vortrag in der Firma oder bei einer Rede auf der Geburtstagsparty. Es gibt unterschiedliche Formen der Unsicherheit, welche das sind, erläutert Psychologin Anne Otto.
Fast jeder kennt das Gefühl: Situationen, in denen man sich nicht gut, nicht wohl, nicht richtig fühlt. Situationen, die Unsicherheit auslösen. Immer mehr Menschen verspüren die Angst vor einer negativen Bewertung. Menschen hinterfragen sich, haben Selbstzweifel, schränken deshalb sogar ihre Handlungsspielräume ein. Die Psychologin Anne Otto hat dieses Verhalten erkannt und analysiert. Mit ihrem neuen Buch "Die Kraft der Unsicherheit" will sie Mut machen. Denn Unsicherheit muss nicht bekämpft oder versteckt werden, sie kann sogar stark machen. Wie das funktioniert, wie wir wieder selbstbewusst durch schwierige Situationen navigieren können, darüber spricht Anne Otto mit Martina Kothe in NDR Kultur à la carte.
In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Sie auf das Thema Unsicherheit gekommen sind. Das war auf einer Geburtstagsparty mit Freunden. Nach und nach hat sich jeder zum Thema Unsicherheit gemeldet und erzählt, in welchen Situationen er oder sie Unsicherheit verspürt. Was ich so spannend fand, war, dass bei jeder Person, die sich geoutet hat, alle sagten, das hätte ich nie von dir gedacht. Das heißt, wir sind eine Gesellschaft von Menschen, die alle ihre Unsicherheiten haben. Die Frage ist nur, in welcher Abstufung? Wie kamen Sie darauf, dass Sie gesagt haben, das ist ein Thema, mit dem ich mich tiefer beschäftigen möchte?
Anne Otto: Bei dieser Situation bei dem Essen, fand ich es erstaunlich, dass jeder einen ganz anderen Blick darauf hatte. Aber fast alle haben gesagt, ich kann damit richtig viel anfangen und mir geht das auch so. Es war eine Erleichterung im Raum. Wenn man darüber spricht, dann gibt es eine Entlastung. Dadurch merkt man, was eigentlich unter der Oberfläche der sozialen Kontakte abläuft. Gleichzeitig ist das nicht bei allen gleich. Es gibt diese erste Entlastung, die ist schön, aber es gibt Abstufungen. Bei zwei Prozent der Menschen gibt es soziale Phobien, das heißt, das sind klinisch relevante Störungen, bei denen man vielleicht eine Therapie braucht. Die Leute ziehen sich ganz zurück, gehen nicht mehr aus dem Haus oder haben große Ängste, Ziele nicht mehr zu erreichen. Aber das sind gar nicht so viele Menschen, die das betrifft. Demgegenüber stehen ungefähr 40 Prozent der Leute, die sich selbst als schüchtern oder gehemmt bezeichnen. Das passt auch zu physiologischen Studien, bei denen man sagt, ein Drittel der Leute oder etwas mehr fühlen sich vom Temperament eher gehemmt. Wenn man den Schwierigkeitsgrad steigert und Leute befragt, was sie unsicher macht, merkt man, dass, wenn es ums freie Reden geht, zum Beispiel auf der Geburtstagsfeier der Freundin, dass das Momente sind, wo 80 oder 90 Prozent der Leute sagen, ich vermeide das lieber.
Kann man denn sagen, dass es in unserer Gesellschaft heute - auch in der westlichen Konsumgesellschaft - gesellschaftliche Faktoren gibt, die diese Unsicherheiten verstärken, beziehungsweise erst zutage fördern durch Situationen, die sich ergeben?
Otto: Das würde ich auf jeden Fall sagen. Das Wort Unsicherheit kann man auch unterschiedlich verstehen. Es gibt diese soziale Unsicherheit, und es gibt eine allgemeine Verunsicherung. Ich glaube, dass diese allgemeine Verunsicherung und auch die soziale Verunsicherung zugenommen haben. Bei den Faktoren, sagt man, dass soziale Medien, wie Instagram, der ewige Vergleich, also eine Ranking-Gesellschaft, auch eine Gesellschaft mit Optimierungsversprechen, dass die dazu einladen, seine eigenen Ansprüche hochzustellen und sich dauernd mit anderen zu vergleichen. Das ist ein hoher Druck, der dadurch entsteht. Man ist immer in der Bewertung, in der Selbstbewertung, in der Abwertung und so weiter. Dazu kommen dann noch andere, eher äußere Faktoren, zum Beispiel sowas wie, man muss sich heute viel mehr im beruflichen Kontext mit viel mehr Menschen auseinandersetzen lernen, immer wieder neue Leute kennen, muss ganz oft ins kalte Wasser springen. Was in einer Gesellschaft der 1950er-Jahre nicht so war, das war auch in den Siebzigern noch nicht so. Es sind auch die Medien, die alles verschnellert haben. Man muss mit fremden Leuten auf der Zoom-Kachel sprechen. Das ist eigentlich ganz schön, aber es hat eben auch hohe Anforderungen. Ich habe darüber auch schon mit mehreren Kolleginnen und Kollegen, also Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten gesprochen. Zum Beispiel Thorsten Padberg, einem Psychotherapeuten aus Berlin, der sagt, viele Leute kommen in die Praxis mit folgendem Gefühl: "Eigentlich bin ich gerne in Berlin, aber eigentlich lerne ich nicht so viele Leute kennen." Das ist wie ein Lebensgefühl, so dass die Unsicherheit nicht aufhört.
Das Gespräch führte Martina Kothe.