Wohnen: "Treiber der menschlichen Entwicklung"
Wohnen ist viel mehr als ein Dach über dem Kopf. Der Publizist Florian Rötzer meint, dass die Wohnung wie ein Uterus ist, aus dem heraus die Menschheit sich zu dem entwickelt hat, was sie heute ist.
Wie ist unser Verständnis vom Wohnen entstanden? Und warum haben wir das Bedürfnis, unsere Wohnungen individuell einzurichten? Darüber haben Denise M'Baye und Sebastian Friedrich im Philosophie-Podcast Tee mit Warum mit Florian Rötzer gesprochen. Der Journalist und Publizist wurde 1953 geboren, hat Philosophie studiert, ist Mitbegründer des Online-Magazins "Telepolis" und Buchautor. In seinem Buch "Sein und Wohnen. Philosophische Streifzüge zur Geschichte und Bedeutung des Wohnens" hat sich Rötzer intensiv mit dem Thema Wohnen auseinandergesetzt. Einen Auszug des Gesprächs lesen Sie hier, das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.
Wieso leben wir Menschen denn nicht auf Bäumen, sondern haben uns überlegt, uns am Boden sesshaft zu machen?
Florian Rötzer: Ja, ob wir es uns überlegt haben, ist natürlich eine andere Frage. Wir sind offenbar von den Bäumen heruntergestiegen. Schon Affen, vor allem Gorillas, machen Lager auf dem Boden, weil sie zu schwer sind, um in den Bäumen hausen zu können. Es hat einen großen Vorteil, auf dem Boden zu liegen, denn auf einem Baum sitzt man auf einem Ast und und wackelt ständig. Man kann nicht durchschlafen. Eine meiner Thesen ist, dass die Menschen deswegen, weil sie auf den Boden gegangen sind und sich dort einen Unterschlupf gesucht haben, konstanter durchschlafen konnten und deswegen kognitiv explodiert sind. Das Wohnen auf dem Boden ist einer der wesentlichen Evolutionsfortschritte gewesen.
Ein Unterschlupf ist also nötig, damit wir uns weiterentwickeln und uns entspannen können?
Rötzer: Es sind zwei Dinge, glaube ich. Also erstens mal dieser durchgehende Schlaf. Wir sind Menschen, schlafen länger und durchgehender als die meisten anderen Tiere. Und die Menschen konnten sich so aus dem Kollektiv gewissermaßen in ihren eigenen Bau zurückziehen. Ich glaube, das sind die großen Treiber der menschlichen Entwicklung gewesen.
Dieses sich zurückziehen, nicht im Kontakt mit den anderen zu sein, nicht Gefahren ausgesetzt zu sein - ist das einer der Gründe, warum der Mensch die Möglichkeit hatte, etwas zu verarbeiten, zu reflektieren und weiterzudenken?
Rötzer: Ja, und auch um Eigenheiten zu entwickeln. Das ist gewissermaßen die beobachtungsfreie Zone. Was sich heutzutage verändert, weil in die Privaträume die Beobachtung mittlerweile anderweitig einzieht. Damals war es eine beobachtungsfreie Zone, zunehmend isoliert oder nur mit einigen wenigen Familienmitgliedern zusammen. Die Menschen konnten dort Eigenheiten entwickeln, die im Kollektiv vermutlich nicht durchführbar gewesen wären, weil dann sogleich die Strafe folgt. Man weiß, wie drängend Regelungen in kleinen Gemeinschaften sein können. Dieser Rückzug aus dem größeren Kollektiv ist sicher etwas gewesen, wo sich Eigenheiten entwickeln konnten, wo Nischen entstanden. Ich glaube, das ist so etwas, was Kreativität freisetzt.
Gibt es eine anthropologische Konstante, dass der Wohnraum auch einen Schutzraum ist?
Rötzer: Ja, natürlich. Ich denke, das war schon immer so. Früher war es die Sicherung gegen wilde Tiere oder auch gegen Insekten. In der Nacht ist es gut, wenn man einen umbauten Raum hat, in den bestimmte Affen und andere Tiere nicht hereinkommen können. Oder auch fremde Menschen. Ich glaube, das ist eine ganz wesentliche Funktion. Andererseits, wenn die Gemeinschaften immer kleiner werden und die Single-Existenzen zunehmen, kann das auch umschlagen in eine Art Gefängnissituation, wo das Bedürfnis dann immer stärker wird, rauszukommen oder zumindest einen Anschluss ans Außen zu haben. Da könnten die neuen Techniken eine wichtige Rolle spielen.
In deinem Buch "Sein und Wohnen" beschreibst du die Wohnung als Nachfolger des Uterus. Inwiefern würde es du dem zustimmen, dass wir uns quasi den Uterus - unser Gefäß - selber einrichten?
Rötzer: Ich glaube, dass die Geburt ein großer Schock war. Man kommt als nacktes, ungeschütztes Wesen aus der Mutter heraus, und man sucht immer wieder die Geborgenheit, die man im Uterus wahrscheinlich verspürt hat. Man weiß es nicht genau, das sind nur Projektionen. Aber es gibt, glaube ich, den großen Wunsch nach einer Sicherheit, einen Raum zu haben, in dem man geschützt ist und in dem man in Ruhe gelassen wird. Ich glaube, das ist die Wohnung oder das Haus, das man sich entsprechend einrichtet. Wobei mittlerweile die Nomaden immer stärker werden, die sich in Wohnungen einmieten, die schon möbliert sind und man da gar nicht viel einrichtet. Die Einrichtung erfolgt eher im Computer oder im Smartphone, wo die Individualitäten dann aufscheinen.
Unsere Leitfrage lautet: Warum wollen wir nicht nur wohnen, sondern warum wollen wir schöner wohnen? Warum haben wir das Bedürfnis?
Rötzer: Wir haben überhaupt das Bedürfnis, in einer schönen Umgebung zu sein, nur können wir die normale Umgebung nicht direkt beeinflussen. Von daher ist natürlich das, was in der Wohnung stattfindet, die wir besitzen oder gemietet haben und das Recht haben, sie ausstatten zu können. Dann versuchen wir natürlich, unsere Dinge dort anzubringen, wie es uns gefällt. Das ist natürlich eine gewisse Ästhetik, die wir in allen Bereichen haben. Ich finde es nicht verwunderlich, sondern ganz selbstverständlich, dass das schöner Wohnen auch durchschlägt. Wobei, es gibt ja auch die Tendenz - denken wir ans Bauhaus oder an die Sachlichkeit - das schöner Wohnen nicht zu machen, sondern im kahlen Wänden und Umgebungen zu leben, wo man sozusagen alles entfernt, was an Individualität erinnern kann. Aber das ist auch eine Art von Ästhetik oder schöner Wohnen.
Vorhin hast du gesagt, dass sich das Wohnen durch die Digitalisierung verändert. Unsere Wohnungen verändern sich und dadurch unser Leben. Inwiefern?
Rötzer: Ich habe in dem Buch ein bisschen geschildert, wie das vielleicht in der Zukunft weitergehen könnte. Wir wissen alle, dass wir jetzt schon mit unseren "Alexas" und unseren digitalen Begleitern sprechen, dass wir uns daran gewöhnen, mit Wesen zu sprechen, die nicht menschlich sind. Jetzt rüsten wir unsere Wohnungen allmählich auf mit verschiedenen Techniken, die interaktiv steuerbar sind, die erkennen, wann jemand zur Tür hereinkommt, wo man die Lichter auch aus der Ferne anmachen oder die Heizung steuern kann. Die Idee ist, im Endeffekt eine smarte Wohnung zu haben. Die wird dann wahrscheinlich durch digitale KI-Agenten gesteuert, wo auch diese künstliche Intelligenz zu einem Mitbewohner werden kann. Dann leben wir in einem Haus, das nicht mehr tot ist, sondern wir sprechen mit unserem Haus. Das Haus ist belebt, und ich glaube auch, dass das der Übergang in diese andere Art des Wohnens ist.
Die Fragen stellten Denise M'Baye und Sebastian Friedrich. Das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.