Teilnehmende der Rostocker Schreibwerkstatt "Letters Found - Gefundene Briefe" des vereins für die persische Kultur, Kunst und Sprache ©  Omid Naghavi

"Ich wollte die Küsse meiner Mutter in den Rucksack packen"

Sendedatum: 21.06.2024 07:40 Uhr

Voller Schmerz und Hoffnung machen sich Menschen auf den Weg nach Deutschland, um Verfolgung und Krieg zu entkommen. In einer Schreibwerkstatt in Rostock konnten Geflüchtete ihr Erlebtes niederschreiben - mit professioneller Hilfe.

von Alina Boie

Ein Teil der Lebensgeschichte von Ghazahl: Vor drei Jahren kam die heute 25-Jährige aus dem iranischen Isfahan nach Deutschland. Ihre Gefühle bei der Abreise aus ihrem Heimatland, ihren Schmerz und all die Hoffnungen, die mit der Einwanderung nach Deutschland verbunden waren, die hat Ghazal zu Papier gebracht - in ihrer Muttersprache Persisch und mit Unterstützung auch auf Deutsch:

"Das Mädchen wollte seine Sehnsüchte und alle Leere in diesem letzten Moment überwinden und hinter sich lassen. Sie wollte ihre Tasche mit den Küssen und dem Lächeln ihrer Mutter füllen, alle Umarmungen ihres Vaters einsammeln und in ihren Rucksack packen. Die Tränen der kleinen Schwester in den Falten ihres Schultertuchs verbergen und sie alle mitnehmen."  Textauszug von Ghazahl

Gefühle aufzuschreiben tat gut

Das alles aufzuschreiben, war nicht einfach, erzählt Ghazahl. Aber es habe gutgetan, die eigenen Gefühle auf diese Weise zum Ausdruck zu bringen. Zuerst habe sie verschiedene Anfänge verfasst, andere Situationen geschildert von ihrer ersten Zeit in Deutschland. Aber in dieser Situation am Flughafen, da habe für sie die meiste Emotion gelegen. Schreiben, das habe ihr schon immer Freude bereitet. 

Weitere Informationen
Das Cover Kannas, Games und Das schimmern der See © avant Verlag, Splitter Verlag

Graphic Novels im Januar: Berührende Geschichten zum Thema Flucht

Mathias Heller stellt drei Graphic Novels vor, die auf sehr bemerkenswerte Weise das Thema Vertreibung in den Fokus nehmen. mehr

"Als ich von dem Projekt gehört habe, fand ich das ganz interessant. Ich hatte auch Lust immer was zu schreiben und schreibe auch manchmal zu Hause, da gab es eine gute Möglichkeit für mich, dass ich auch professionell üben kann", erzählt die 25-jährige Ghazal.

Persische Literatur und Sprache im Iran gelehrt

Omid Naghavi und seine Frau Parvaneh Azizi leiten das Projekt. Beide lehrten im Iran persische Literatur und Sprache an der Hochschule. Seit 2023 geben sie in Rostock mit dem "Verein für die persische Kultur, Kunst und Sprache" (PKKS) ihr Wissen in literarischen Kursen weiter. Im Schreibprojekt "Letters found - Gefundene Briefe" - in Zusammenarbeit mit dem Literaturrat MV - arbeitete das Ehepaar zehn Wochen lang mit acht Männern und Frauen an deren Texten.  

"Die Geschichten sind meistens sehr traurig", erzählt Omid Naghavi. Beim Lesen habe er immer weinen müssen. Es sei nicht leicht, von diesen Erfahrungen zu hören und sie zu verstehen, sagt er weiter.

Geschichten erzählen vom Ankommen - und von Rassismus

Auch die 19-jährige Zhara wollte in dem Projekt ihre Geschichte aufschreiben. Vor drei Jahren, damals als Schülerin, kam sie mit ihrer Familie aus Teheran nach Deutschland. Am Anfang habe ihr die Schule große Probleme bereitet - die Deutschkenntnisse fehlten. Von vielen Lehrerinnen und Lehrern sei sie unterstützt worden, habe an der Schule in Deutschland jedoch auch Rassismus erleben müssen. Darum geht es auch in ihrem Brief, der in der Schreibwerkstatt entstanden ist: "Schau, es ist sechs Monate her. Alles andere ist vergangen. Aber es ist immer noch da. Und alles wohnt in meinem Herzen.", schreibt die 19-Jährige.

Workshopleiter Omid Naghavi wünscht sich, in Zukunft mit noch mehr Menschen daran zu arbeiten, ihre persönlichsten Geschichten erlebbar zu machen. 

Weitere Informationen
Der Hafen an der Altstadt von Wismar in Mecklenburg-Vorpmmern. © picture alliance Foto: Maren Winter
2 Min

Weltflüchtlingstag: Ein neues Leben in Wismar

Der Syrer Samer Haj Khamis lebt seit neun Jahren in der Hansestadt und kandidiert sogar für die SPD bei der Kommunalwahl. 2 Min

Haftnotizen Weg zur JVA © NDR Foto: Katrin Schwier

Haftnotizen: Schreibwerkstatt für junge Männer aus der JVA Hahnöfersand

In der Justizvollzugsanstalt südlich von Hamburg können Häftlinge ihre Gedanken zu Papier bringen. Eine Autorin unterstützt sie dabei. mehr

Geflüchtete nehmen Unterricht in einer Schreibwerkstatt. © NDR

Schreibwerkstatt: Geflüchtete schreiben am "Buch des Lebens"

Vergangenheit verarbeiten und in die Zukunft schauen - das Schreiben soll Geflüchteten helfen in Pinneberg anzukommen. mehr

Natalya Stupka (li.) und Mariia Vorotilina © Yulia Krivich / Vita Popova Foto: Yulia Krivich / Vita Popova

Projekt: Zwei Ukrainerinnen vernetzen Geflüchtete in Hamburg

Unter dem Motto "Zusammenkommen" organisieren Natalya und Mariia Treffen für geflüchtete ukrainische Künstlerinnen und Künstler. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 21.06.2024 | 07:40 Uhr

Hände halten ein Smartphone auf dem der News-Channel von NDR Kultur zusehen ist © NDR.de

WhatsApp-Channel von NDR Kultur: So funktioniert's

Die Kultur Top-News aus Norddeutschland direkt aufs Smartphone: NDR Kultur ist bei WhatsApp mit einem eigenen Kanal aktiv. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Eine Frau mit langen dunklen Haaren, die zu einem Zopf gebunden sind, steht auf der Bühne, hält ein Mikrofon in der Hand und singt. Es ist die US-amerikanische Sängerin Beth Hart. © picture alliance / Ritzau Scanpix | Helle Arensbak Foto: Helle Arensbak

Beth Hart in der ZAG Arena Hannover: nicht mal halb gefüllt

US-amerikanische Blues- und Rocksängerin heizt dem Publikum ein, doch sie spricht auch über bipolare Störungen und Drogensucht. mehr

Das Logo von #NDRfragt auf blauem Hintergrund. © NDR

Umfrage zum Fachkräftemangel: Müssen wir alle länger arbeiten?