Schreibwerkstatt: Geflüchtete schreiben am "Buch des Lebens"
Seit Februar treffen sich die Teilnehmer der Schreibwerkstatt der DiakoMigra in Pinneberg. Was daraus entsteht, ist nicht nur ein gemeinsames Buch. Es geht auch um Verarbeitung, Selbstbewusstsein und den Blick in die Zukunft.
Als sie im März 2022 nach Deutschland kam, konnte sie kein Wort Deutsch. "Ich hatte sehr viel Angst, weil ich kein Deutsch sprechen kann. Ich fühlte keinen Schutz", erzählt Anzhelika Stepanenko. Ursprünglich kommt sie aus Dnipro. Die Stadt im Südosten der Ukraine liegt keine 200 Kilometer vom Atomkraftwerk Saporischschja entfernt. "Ich hatte Angst, dass es explodiert", erzählt die 35-Jährige. Deshalb entscheidet sie sich ihre Heimat zu verlassen - allein.
Ankunft in Deutschland: Neue Sprache, neue Umgebung
Seit einem halben Jahr sitzt sie nun einmal in der Woche in der Schreibwerkstatt der DiakoMigra in Pinneberg (Kreis Pinneberg) und versucht ihre Geschichte in Worte zu fassen. "Wie eine psychologische Therapie" sei das für sie. Zum Beispiel, wenn sie über ihre Flucht schreibt. Am Bahnhof in Dnipro musste sie sich von ihrem Vater verabschieden. Sie schreibt darüber: "Ich habe Papa umarmt. Ich hoffe, dass dies nicht unsere letzte gemeinsame Umarmung ist und dass ich ihn wieder lebend sehen kann." Mit dem Zug fährt sie zunächst nach Lwiw. "In den Waggons war es dunkel, das Licht war ausgeschaltet. Das war eine Tarnung zur Sicherheit. Die Kinder hatten Angst. […] Endlich ist die Nacht vorbei und der Morgen ist gekommen. Wir sind in Lwiw angekommen. Überall stehen viele Menschen Schlange. Wohin sollte ich gehen? - fragte ich mich."
Über Berlin kommt sie nach Schleswig-Holstein. Eine Ehrenamtliche vermittelt ihr eine Wohnung in Pinneberg. Doch dort ist zunächst alles fremd. "Auf den ersten Blick kam mir Pinneberg wie eine graue langweilige Stadt vor", heißt es in einem ihrer Texte. "Hier gibt es viele mehrstöckige Häuser." Besser geht es ihr, als sie ein Fahrrad geschenkt bekommt. "Was für eine Überraschung war mein erster Ausflug zum Wolnysee. Während der Fahrt sah ich viele Blumen, Bäume. Vögel singen." Den See hat die gelernte Kunstlehrerin schon mehrfach gemalt. Malen und die Ausflüge in Pinneberg tun ihr gut. Und auch, dass sie immer mehr Anschluss findet - wie bei der Schreibwerkstatt.
Texte aus der Schreibwerkstatt
Erlebtes verarbeiten und in die Zukunft blicken
Die Idee dazu hatte Ekaterina Filippova. Sie ist als Sozialarbeiterin bei der DiakoMigra tätig. "Wir wollten, dass die Teilnehmer Deutsch lernen, dass die das nutzen. Das ist kein Sprachkurs mehr", erklärt Filippova. Begonnen hat sie die Schreibwerkstatt dennoch noch mit Übungen an der Tafel. Anfangs hätten viele auch noch in ihrer Muttersprache geschrieben und ihre Geschichte mit Hilfe von Apps übersetzt. Nach und nach habe sie alle ermutigt direkt auch Deutsch zu schreiben: "Der Lern-Effekt ist viel größer, wenn du nicht die Maschine machen lässt, sondern das selber machst. Das ist sehr viel schwerer."
Auch Anzhelika Stepanenko ist das Schreiben auf Deutsch zunächst nicht leicht gefallen. Besonders Emotionen in einer fremden Sprache auszudrücken sei schwer, erzählt sie. Für die Leiterin der Schreibwerkstatt geht es auch darum Selbstbewusstsein aufzubauen. "Wenn man eine Sprache nicht kann, ist man selbst nicht sicher." Anzhelika sei sehr schüchtern gewesen. "Und sie war erst mal auch sehr vorsichtig mit ihren Texten: Ob ich das preisgeben möchte? Oder darüber schreiben möchte?" Mittlerweile sei sie offener. "Ich kann anderen Leuten meine Geschichte erzählen." Vor allem dafür schreibt Stepanenko. Ihre Vergangenheit solle nicht in Vergessenheit geraten. "Ich möchte zeigen, wie man stark sein kann in einer schwierigen Situation. Das ist wichtig."
Es entsteht ein "Buch des Lebens"
Dadurch, dass sie ihre Vergangenheit verarbeiten, sollen sie auch wieder nach vorne schauen können. "Zukunft zu formulieren war für einige schwer", so die Sozialarbeiterin. Mittlerweile könnten das viele ausdrücken. "Mir hilft es sehr", erzählt auch Yuliia Panchuk über die Schreibwerkstatt. "Ich lerne meine Gedanken auf Deutsch zu formulieren." Für Olha Fedoruk bedeutet das auch: anders Denken. "Man kann nicht direkt auf Deutsch sagen, was man denkt, weil die ukrainische und deutsche Sprache natürlich sehr anders sind." Sie möchte mit selbst geschriebenen Liedern und Gedichten von ihrer Heimat berichten. "Ich glaube viele Deutsche haben nicht viel gewusst über die Ukraine. Vor dem Krieg hatten viele Deutsche andere Gedanken", erzählt sie. "Und jetzt lernen wir: Was ist Deutsch?" Sie hofft, dass durch die Texte vielleicht auch Menschen in Deutschland mehr über die Ukraine lernen.
Nach nur einem halben Jahr arbeiten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bereits auf eine Veröffentlichung hin. In den kommenden Wochen wählen sie Texte aus, redigieren, malen Bilder und machen Fotos für ein gemeinsames Buch. Mitte September wollen sie ihr "Buch des Lebens", wie sie es nennen, in Hamburg vorstellen und daraus vorlesen.