Ninia LaGrande: "Inklusion" ist ein inflationärer Begriff geworden
Die Hannoveranerin Ninia LaGrande erzählt von unbefriedigenden Therapiemöglichkeiten für Menschen mit Behinderung, der Herausforderung, alle Kinder gemeinsam zu beschulen und von ihren persönlichen Erfahrungen als kleinwüchsige Frau.
In diesem Jahr stehen beim Diversity Day, dem Tag der Vielfalt, Menschen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen im Mittelpunkt. Das Stichwort ist "Inklusion", also Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Ein Thema auch für die Slam-Poetin, Bloggerin und Autorin Ninia LaGrande aus Hannover.
Sie sind als Kleinwüchsige auch damit konfrontiert, oder?
Ninia LaGrande: Ja klar, das begegnet mir natürlich auf einer persönlichen Ebene. Allein dadurch, dass es für mich immer noch Barrieren gibt. Es begegnet mir aber auch im beruflichen Alltag, dadurch, dass ich kleinwüchsig bin. Ich habe irgendwann damit angefangen, mich mit dem Thema öffentlich zu beschäftigen und mich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einzusetzen. Es ist natürlich so, dass ich beruflich bei Moderationen, Texten oder Kolumnen oft mit dem Thema zu tun habe.
Wenn wir über Inklusion sprechen, sprechen wir schnell über das Dauerbrenner-Thema "Inklusion an Schulen". Aber was gehört da noch alles dazu?
LaGrande: "Inklusion" ist ein inflationärer Begriff geworden. Für mich ist Inklusion: miteinander leben, arbeiten, wohnen und so weiter. Alle alltäglichen Bedarfe von Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen auf Augenhöhe und gleichberechtigt mit allen anderen. Inzwischen wird Inklusion auch in einem größeren Rahmen benutzt: dass wir nicht nur von Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen sprechen, sondern von ganz vielen anderen auch. Für meine Begriffe verwässert das ein bisschen. Ich glaube, dafür gibt es andere Begriffe.
Sie meinen geschlechtliche Orientierung und Diversität, oder?
LaGrande: Genau. Oder auch Leute mit einer Migrationsgeschichte oder so. Das ist alles wichtig, dass wir alle gemeinsam gleichberechtigt leben. Aber ich glaube, die Schwerpunkte sind in dem Fall andere, wenn wir über Menschen mit Behinderungen sprechen. Das wird inzwischen zu inflationär und zu schnell genutzt. Schule ist so ein Thema, Arbeitsmarkt ist so ein Thema. Was aber in diesem Zusammenhang zukünftig auch ganz wichtig werden wird, ist: Wie wollen wir eigentlich miteinander leben? Der Wohnungsmarkt ist auch für Menschen ohne Behinderung aktuell ein sehr großes Thema - und für Menschen mit Behinderung natürlich noch viel mehr. Wo wollen wir leben? Wie sieht der Sozialraum aus? Kann ich als Mensch mit Behinderung barrierefrei ins Theater gehen, ins Kino? Das sind alles Themen, die dann schnell mal hinten über fallen. Wie leben eigentlich Menschen mit Behinderung, die alt werden? Wie barrierefrei sind Wohneinrichtungen für Seniorinnen und Senioren? Nicht nur barrierefrei, dass man da mit dem Rollstuhl fahren kann, sondern in allen Belangen.
Ein ganz wichtiges Thema, worüber ich viel nachdenke, ist das Thema Inklusion, wenn wir über Therapie sprechen: Frauen mit Behinderungen erleben zwei- bis dreimal häufiger sexualisierte Gewalt und Übergriffe als Frauen ohne Behinderungen; sie sind also noch mehr betroffen, obwohl es ja eh schon schlimm ist. Und gerade Frauen mit sogenannten Lernschwierigkeiten oder geistigen Behinderungen haben ganz selten die Möglichkeit, Therapie in Anspruch zu nehmen, oder überhaupt in einem geschützten Raum und Rahmen darüber zu sprechen, was sie eigentlich erleben.
Was haben Sie für einen Eindruck, wo steht Deutschland in Sachen "Inklusion"?
LaGrande: Deutschland ist in vielen Bereichen stecken geblieben. Was mich so ein bisschen nervt, ist, dass es dann oft heißt: Wir müssen erst mal die Barrieren in den Köpfen wegbekommen. Ich glaube, dass das nicht das Problem ist. Wenn wir uns Länder angucken, wo es an den Schulen, am Arbeitsmarkt und auf dem Wohnungsmarkt besser läuft, zum Beispiel in den USA oder in Großbritannien, dann sieht man, dass die vor vielen Jahren schon ganz andere gesetzliche Voraussetzungen geschaffen haben. Diese gesetzlichen Voraussetzungen sorgen dafür, dass man es eben machen muss und dass es nicht auf dieser freiwilligen Ebene ist.
Deutschland hat immer noch die Problematik, dass die Privatwirtschaft überhaupt nicht zur Inklusion verpflichtet ist. Im Gegensatz zum Beispiel zu Großbritannien, wo jeder Laden eine mobile Rampe haben muss, damit Leute mit einem Rollstuhl da reinkommen. Das klingt nach Kleinigkeiten, aber wenn man solche Gesetze schaffen würde, die nicht nur öffentliche Gebäude und solche Kleinigkeiten regeln, sondern das große Ganze, dann würde es über Jahre gedacht schneller gehen.
Warum hinkt Deutschland da auch der UN-Behindertenrechtskonvention hinterher?
Ninia LaGrande: Es ist einfach historisch so gewachsen, dass es immer so getrennt wurde. Ich habe auch oft den Eindruck, dass man nicht will, weil es möglicherweise zu anstrengend erscheint. Oder weil man dann eigene Bedürfnisse ein bisschen zurückschrauben müsste, um andere zu inkludieren. Oft ist, glaube ich, auch zu wenig Geld da. Wenn wir über Inklusion in der Schule sprechen oder auch bei Sportangeboten, dann braucht man entsprechende Fachkräfte. Man braucht mehr Leute, man braucht mehr Räumlichkeiten, besser ausgebaute Räumlichkeiten. Dafür ist einfach zu wenig Geld da. Und dieses Konglomerat führt dann dazu, dass es einfacher ist, es so zu belassen.
Ein Beispiel aus der Schule: Es gibt immer noch, zumindest in Niedersachsen, Förderschulen. Das ist aus meiner Sicht das Gegenteil von Inklusion. Auf der anderen Seite verstehe ich in der aktuellen Lage jedes Elternteil, das sagt: Wir haben uns damit auseinandergesetzt und glauben, dass unser Kind mit Behinderungen in der Förderschule ein sicheres Umfeld, ein Umfeld, in dem es sich vielleicht wohler fühlen würde, als die ganze Schulzeit lang zu kämpfen. Da kommt es natürlich auch darauf an, welche Behinderung man mitbringt. Ich war kleiner als alle anderen. Ich kann mich aber in meinem Alltag recht gut bewegen, kann Treppen gehen, habe keine Verständnisschwierigkeiten, kann mich gut austauschen. Das sind alles Privilegien im Gegensatz zu anderen Kindern. Und da sind in den Schulen aktuell, so sehr man sich das wünscht, noch viel zu wenige Fachkräfte und viel zu wenig räumliche Voraussetzungen, damit das so funktioniert, wie es eigentlich funktionieren soll. Es funktioniert an einigen Schulen, aber dann, weil Leute da sind, die sich einsetzen wollen.
Wenn man sich fragt, warum das nicht funktioniert, dann muss man auch sagen: Weil man mit diesem getrennten System auch viel Geld verdienen kann. In unserer Bubble nennen wir das immer: die "Wohlfahrtsindustrie". Da steckt einfach viel Geld dahinter. Viele Konzerne investieren in die Werkstätten, damit die Leute für sie acht Stunden Schrauben drehen. Ich drücke das jetzt ein bisschen plakativ aus, aber am Ende entspricht es doch irgendwie auch der Wahrheit. Da machen viele sicherlich einen guten Job, aber die, die ohne Behinderung in diesen Werkstätten arbeiten und die Mitarbeitenden mitbetreuen und anleiten, die verdienen ja auch gutes Geld. Wenn man sich anguckt, wie viel solche Werkstätten im Jahr umsetzen, braucht man sich nicht zu wundern, dass die nicht von selbst sagen: Uns braucht man nicht mehr, wir machen jetzt mal zu.
Gerade in Unternehmen, aber auch in Jurys, auf Festivals, in Rundfunkanstalten versucht man, diese Diversität zu leben, zu sagen, wir kümmern uns darum. Was ist Ihr Eindruck? Ist das auch so eine Feigenblatt-Geschichte, oder funktioniert es da gut?
LaGrande: Ich will nicht alles schlecht reden. Wenn man sich die letzten 20 bis 30 Jahre anguckt, ist in Sachen Diversität und Inklusion sehr viel passiert. Das heißt aber nicht, dass wir jetzt schon da sind, wo wir eigentlich sein sollten. Es ist auch schade, dass es so lange gedauert hat, bis man überhaupt an diesem Punkt ist. Viele machen schon gute Sachen, aber in der Regel zu wenig. Es reicht nicht, wenn ich als großer Konzern sage, dass ich mir einen Menschen mit Behinderung für zwei Wochen Praktikum hole, damit der mal reinschnuppern kann, ich ihn aber nicht so bezahle. Es ist also auch wichtig, ein viel offeneres Umfeld zu schaffen und sich zu trauen, auch angesichts des Fachkräftemangels Auszubildende mit Behinderungen aufzunehmen und zu gucken, ob das nicht funktionieren könnte.
Der Diversity Day ist immer nur ein Tag, und an dem Tag sagen dann alle: Jetzt hängen wir mal die Regenbogenflagge raus. Beim Stichwort "Diversität" geht es ganz oft um Frauenförderung, dann kommt die Frage der Sexualität, und dann kommt irgendwann die Frage der Herkunft. Und Menschen mit Behinderung sind ganz hinten, wenn wir über dieses Stichwort sprechen. Deswegen ist noch sehr viel zu tun - in der Form, dass wir nicht sagen: Guck mal, wir haben hier auch einen behinderten Mitarbeiter, sondern dass das eine Selbstverständlichkeit wird. Ich glaube, dass das nur funktionieren kann, wenn die Leute, die in diesen Konzern und Betrieben ganz oben sitzen, wirklich davon überzeugt sind, dass es funktioniert. Denn wenn die denken, das aus einer Art Charity oder Gutmenschentum zu machen, dann wird es nicht funktionieren.
Das Interview führte Andrea Schwyzer.