Werkstatt-Beschäftigte fordern mehr Geld und freie Berufswahl
Menschen mit Behinderungen wollen ihr Leben eigenständig finanzieren können und selbst entscheiden, wo sie arbeiten. Sie fordern: Werkstätten müssen besser auf die Arbeitswelt vorbereiten und Unternehmen müssen sich mehr öffnen.
Das Werkstatt-System für Menschen mit Behinderungen steht schon lange in der Kritik. Es gibt Zweifel, ob es dem Gedanken der Inklusion wirklich gerecht wird. Und auch in den insgesamt 40 Werkstätten für Menschen mit Behinderungen in Schleswig-Holstein werden die Forderungen immer lauter. Viele der insgesamt rund 12.000 Werkstatt-Beschäftigten im Land wollen ihr Leben selbstständig finanzieren können.
Durch das aktuelle sogenannte Werkstatt-Entgeld, das eher einem Taschengeld gleiche, sei das schwierig - die Beschäftigten können sich von dem geringen Lohn kaum etwas leisten. Das sagt Kerstin Scheinert, Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft Werkstatträte (LAG Werkstatträte) in Schleswig-Holstein.
Das durchschnittliche Entgelt pro Monat lag 2022 laut Statistik des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales bei 224 Euro. Neben dem Werkstattlohn bekommen die Menschen auch Grundsicherungsleistungen und Wohngeld. Damit haben die Werkstatt-Beschäftigten durchschnittlich im Monat insgesamt rund 1.200 Euro zur Verfügung.
Es geht nicht ums Geld, es geht um die Wertschätzung
Werkstatträte sind vergleichbar mit Betriebsräten in Unternehmen - sie sind Vertreter der Menschen, die in den Werkstätten arbeiten. Die sieben Vorstandsmitglieder der Landesarbeitsgemeinschaft vertreten wiederum die Räte der einzelnen Werkstätten in Schleswig-Holstein und damit die Interessen der Beschäftigten auf landespolitischer Ebene.
"Wer etwas leistet soll auch gerecht entlohnt werden. Das ist auch eine Form der Wertschätzung." Kerstin Scheinert, Vorsitzende Landesarbeitsgemeinschaft Werkstatträte
Die Vorsitzende der LAG Werkstatträte fordert einen Lohn, der unabhängig von Sozialleistungen macht. Für die Werkstatträte in Schleswig-Holstein sei zudem wichtig, dass ein künftiges Entgeltsystem transparent und nachvollziehbar sei.
Im Moment setzt sich das Engeltsystem aus drei Beträgen zusammen. Zwei der Beträge sind gesetzlich festgelegt: zum einen der Grundbetrag in Höhe 146 Euro und zum anderen das Arbeitsförderungsgeld vom Staat in Höhe von 52 Euro. Dazu kommt, was die Werkstätten selbst erwirtschaften, der sogenannte Steigungsbetrag. Dieser ist gesetzlich nicht festgelegt und richtet sich nach der persönlichen Arbeitsleistung und den Fähigkeiten eines jeden Beschäftigten. Der Steigungsbetrag soll erhalten bleiben, so Kerstin Scheinert. Denn dieser Betrag zeige an, wie viel tatsächlich geleistet werde und sei eine Anerkennung der Arbeit.
Geld reicht nicht zum Leben
Zum Leben reicht das Geld meist nicht. Die Menschen, die in den Werkstätten beschäftigt sind, sind oft auf zusätzliche staatliche Leistungen angewiesen. Um dem entgegenzuwirken, halten viele Beschäftigte den Mindestlohn für ein geeignetes Mittel. Das unterstützt auch die Landesarbeitsgemeinschaft Arbeit Bildung Teilhabe Schleswig-Holstein, die die Werkstätten im Land auch auf politischer Ebene vertritt. In einem Positionspapier von 2022 fordern sie unter anderem den Mindestlohn und dass Werkstattbeschäftigte einen Arbeitnehmerstatus erhalten. Aktuell stehen sie in der Regel in einem sogenannten arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis zur Werkstatt.
Werkstätten können Mindestlohn nicht selbst zahlen
Landesarbeitsgemeinschaft-Geschäftsführer Axel Willenberg macht dabei aber deutlich, dass Werkstätten den Mindestlohn nicht aus eigener Kraft zahlen können. Um die Arbeit der Menschen wertzuschätzen, müsste das Geld vom Staat umverlagert werden. Erhalten Beschäftigte Mindestlohn, würden sie unter anderem aus der Grundsicherung rausfallen und auch das Wohngeld nicht mehr in dem Umfang anfallen, so Willenberg.
"Auf der einen Seite würde der Staat Geld sparen, andererseits müsste der Staat den Mindestlohn, den die Werkstätten zahlen würden, dann subventionieren." Axel Willenberg, Geschäftsführer Landesarbeitsgemeinschaft Arbeit Bildung Teilhabe
Reform des Werkstatt-Systems: Ein langer Prozess
Die schleswig-holsteinische Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen, Michaela Pries, geht im Rahmen der Mindeslohn-Diskussion jedoch davon aus, dass sich eine Reform über eine lange Zeit hinziehen würde. Sie spricht von fast 30 Jahren. Wenn an der Stellschraube zur Mindestlohnregelung gedreht werde, müsse an vielen anderen Stellen parallel gearbeitet werden. Pries bedauert, dass es aktuell sowohl auf Landes- als auch Bundesebene keine Bereitschaft gibt, das Thema anzugehen.
"Das Problem in Deutschland ist, wir haben ein sehr komplexes Regelwerk und dieses Ziel können wir einfach nicht kurzfristig erreichen. Aber es ist auf alle Fälle unser und mein Ansporn daran weiterzuarbeiten, so dass wir hier eine andere Grundlage für das Entgelt bekommen." Michaela Pries, Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen
Gesetzesgrundlage für mehr Inklusion bereits vorhanden
Für viele Fragen der Inklusion ist die Bundespolitik verantwortlich. So hat der Bundestag bereits mehrere Gesetze verabschiedet, die die Umsetzung der Forderungen längst hätten möglich machen können, so Michaela Pries. Das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts trat im Juni 2023 in Kraft. Es soll ein gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Arbeitsleben für Menschen mit Behinderung ermöglichen. 2009 hat Deutschland aber bereits die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet, aus der unter anderem hervorgeht, dass Menschen mit Behinderung das Recht haben, selbst an der Gesellschaft teilzuhaben und ihren Lebensunterhalt selbst erarbeiten können.
Werkstätten müssen Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verbessern
Mehr Geld würde für ein deutlich selbstbestimmteres Leben der Beschäftigten in Werkstätten sorgen, so die Idee hinter den Forderungen. Unabhängig davon wollen die Beschäftigten aber auch, dass sie ihren Job künftig leichter selbst wählen können. "Egal ob in der Werkstatt, in einem Unternehmen oder bei einem anderen Anbieter - Werkstätten müssen ihre Beschäftigten besser für den Arbeitsmarkt vorbereiten und Unternehmen müssen sich mehr öffnen", sagt Kerstin Scheinert von der Landesarbeitsgemeinschaft Werkstatträte.
Die Werkstätten haben den gesetzlichen Auftrag, den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu fördern. In der Praxis stellt Pries fest, dass das nicht so gelingt, wie es mal geplant war. Die Übertrittsquote liegt seit Jahrzehnten bei unter einem Prozent.
"Werkstätten selbst müssen sich überprüfen, ob sie ihrem Auftrag wirklich gerecht werden und konkret nochmal schauen, wie sie die Übergänge für ihre Beschäftigten auf den ersten Arbeitsmarkt verbessern können." Michaela Pries, Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung
Einige Werkstätten in Schleswig-Holstein haben laut Pries aber mittlerweile deutlich bessere Übergangsquoten. Dort werden vorbildliche Konzepte erstellt und die Werkstätten arbeiten zum Beispiel eng mit Unternehmen zusammen oder ermöglichen Praktika.
Noch viele Vorurteile in Unternehmen
Laut der Landesbeauftragten fehle aber immer noch strukturell eine Linie, dass Werkstätten flächendeckend motiviert werden, Menschen in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu überführen. "Letztlich ist es aber keine Einbahnstraße. Wenn Werkstätten sich bemühen, brauchen sie auch Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die bereit sind, Menschen zu beschäftigen."
Viele Arbeitgeber in Schleswig-Holstein betrachten die Einstellung von Menschen mit Beeinträchtigungen allerdings noch immer als Last, so die Landesbeauftragte. Sie haben die Sorge vor besonderem Kündigungsschutz und vor der Anschaffung besonderer Ausstattung beispielsweise. Unternehmen würden jedoch bereits jetzt schon Unterstützung von Integrationsfachdienste und Ämter erhalten, die Personalverantwortlichen mit Beratung zur Seite stehen und auch finanziell unterstützen.
Mehr Inklusion auf dem Arbeitsmarkt: Braucht es noch Werkstätten?
Eine Idealvorstellung wäre laut Pries, dass es keine Werkstätten in ihrem ursprünglichen Sinne gibt. "Viel anerkennender für die Beschäftigten wäre, wenn diese Werkstätten als direkte Abteilung eines Unternehmens arbeiten und daran angegliedert sind." Viel zu oft würden Unternehmen ihre Aufträge heute noch an Werkstätten auslagern, um günstig produzieren zu können, aber sich nicht weiter um die Belange der Beschäftigten kümmern zu müssen.
Die Landesarbeitsgemeinschaften der Werkstätten und Werkstatträte halten eine Arbeitswelt ohne Werkstätten hingegen für illusorisch. Werkstätten müssen erhalten bleiben, fordert Kerstin Scheinert, die die Beschäftigten im Land vertritt.
"Werkstätten sind ein sozial geschützter Raum, der für Beschäftigte gerade mit erhöhtem Unterstützungsbedarf erhalten bleiben muss." Kerstin Scheinert, Vorsitzende Landesarbeitsgemeinschaft Werkstatträte
Ein Drittel der Werkstattbeschäftigten in Schleswig-Holstein wollen laut einer Umfrage der LAG Werkstatträte auf den allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten, zwei Drittel bevorzugen die Arbeit in der Werkstatt. Axel Willenberg vom LAG Arbeit Bildung Teilhabe gibt zu bedenken, dass ein Großteil der Beschäftigten durch ihre teils schweren Einschränkungen auch gar nicht in der Lage ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu arbeiten.
Die Landesbeauftragte Pries zweifelt daran, ob nicht noch mehr Beschäftigte auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten wollen. Schon viel früher bei den Übergängen von Schule in die Ausbildung und letztlich in den Beruf fordert sie mehr Flexibilität und eine offenere Gestaltung. Derzeit sei das oft ein vorgezeichneter Weg für viele Menschen mit Behinderung. Sie gehen beispielsweise in eine sonderpädagogische Schule und kommen von dort aus direkt in eine Werkstatt. Und auf dem Weg haben sie keine andere Alternative kennengelernt.
Auch daher fordert die LAG Werkstatträte angepasste Ausbildungsgänge, in denen Menschen mit Beeinträchtigungen anerkannte Qualifikationen erhalten können. Die berufliche Bildung sollte individuell auf jeden Menschen angepasst werden, so die Forderungen.