Die spannendsten Mutterfiguren in der Gegenwartsliteratur
Aus Märchen kennen wir die eher unsympathischen Exemplare von Müttern: die Rabenmutter oder die böse Stiefmutter. Wie steht es aber um die Figur der Mutter in der Literatur der Gegenwart?
Der erste Augenblick: Es ist die ursprünglichste aller Begegnungen, die zwischen Mutter und Kind:
Sein Gesicht ist so neu. Ein Strahlen geht von ihm aus, als würde unter seiner Haut ein Licht brennen. Leseprobe aus: "Schreie und Flüstern"
Wie berauscht Vera doch sein kann. Soeben hat sie einen gesunden Sohn auf die Welt gebracht. Durch dunkle Täler lässt Lisa Kreißler die Protagonistin in ihrem autofiktionalen Roman "Schreie und Flüstern" gehen: eine Fehlgeburt, einen holprigen Neuanfang in der niedersächsischen Provinz, nicht zuletzt Zweifel am Beruf als Schriftstellerin. Als Vera erneut Mutter wird, versöhnt sie sich mit ihren Krisen. Ein Wendepunkt:
So heilig wird es nie wieder. Ich schüttele den Kopf. Ich lache, und ich weine. Ich bin so leicht wie die Luft, die die Schlafenden atmen. Leseprobe aus: "Schreie und Flüstern"
Die Mutter als Maschine
Ganz anders: Schneider. Auch sie ist Mutter geworden in Liat Elkayams Buch "Aber die Nacht ist noch jung". "Melkabteil" nennt sie ihren unfreiwilligen Aufenthaltsort, eine Frühchen-Station voller "Roboter-Schwestern" und ums Überleben ihrer Säuglinge kämpfender Mütter. Milch abpumpen im Akkord. Die Mutter als Maschine:
Das Herz von Schneider hämmert schnell und immer schneller, ist völlig in Aufruhr, schlägt Alarm, denn der elementarste Befehl für einen Primaten ist ergangen: Füttere dein eigen Fleisch und Blut. Leseprobe aus "Aber die Nacht ist noch jung"
Dinçer Güçyeters Blick auf seine Mutter
Ein Kind zu bekommen, verändert alles. Erzählerisch steckt da große Wucht drin. Glück klopft an, aber auch Verantwortung, Entbehrung, die profane Pflicht zur Versorgung. Während die einen das Muttersein literarisch verhandeln, schauen sich andere von außen die Figur der Mutter genauer an. Aus der Perspektive des Kindes zum Beispiel. Der kürzlich gekürte Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse Dinçer Güçyeter, schreibender Gabelstaplerfahrer und Werkzeugmacher, bittet im prämierten "Unser Deutschlandmärchen" die eigene Mutter, seinen Weg anzuerkennen:
Lass mich gehen, Mutter, bitte, löse diese Zügel von meinem Hals (…) Siehst du nicht, ich liege hier wie ein müdes Tier und höre das Brennen der Wälder. Leseprobe aus "Unser Deutschlandmärchen"
"Meine Mutter ist mein Problem"
Wollen wir uns abnabeln oder annähern an die Mutter? Ein Balance-Akt. Von Anfang an, lebenslang. Kein Wunder, dass die Figur der Mutter uns diesen großen Topos der Literaturgeschichte beschert. Und niemand hat gesagt, dass es leicht wird. "Meine Mutter ist mein Problem", denkt Helga Schuberts Ich-Erzählerin in "Vom Aufstehen". Ein ungewolltes Kind, das die kriegsgebeutelte Mutter am liebsten abgetrieben oder auf der Flucht zurückgelassen hätte. Hier zeigt sich: Traumata können wir von unseren Müttern erben.
Sie wird jetzt siebenundneunzig. Ich fürchte mich vor ihr. Ich fühle mich bei ihr fremd und ungeliebt und gehe so wenig wie möglich zu ihr. Ich kann gar nicht begreifen, dass sie meine Mutter ist. Leseprobe aus "Vom Aufstehen"
Die Französin Delphine de Vigan gibt ihren übergriffigen Müttern in "Die Kinder sind Könige" moderne Tools an die Hand:
Sie hält das Handy weit von sich weg und spricht in die Kamera. Filter "Rehaugen". Dann richtet sie das Handy auf ihre Kinder, die beide hinten im Fahrzeug sitzen. Sammy lächelt der Kamera zu, Kimmy lutscht am Daumen und streichelt sich die Nase mit einem Stoffkamel. Leseprobe aus "Die Kinder sind Könige"
Margaret Atwoods düsterste Dystopie
Und während die schrillen Insta-Moms den Spross - ungefragt - als Trophäe, als eigene Meisterleistung zur Schau stellen, liefert die Kanadierin Margaret Atwood die wohl düsterste Dystopie: eine Welt, in der die letzten fruchtbaren Frauen versklavt und zur Mutterschaft gezwungen werden - und sich nur noch als "Gefäße" fühlen. "Der Report der Magd" ist eine feministische Kampfansage:
Aber ich bin auch hungrig. Das ist ungeheuerlich, und trotzdem ist es wahr. Vielleicht ist es die Methode des Körpers, dafür zu sorgen, dass ich am Leben bleibe, dass ich fortfahre, sein unerschütterliches Gebet zu wiederholen: Ich bin, ich bin, ich bin - noch. Leseprobe aus "Der Report der Magd"
Mütter sind auch nur Menschen
Was fängt die konservative Mutter mit ihrer lesbischen Tochter an? In "Die Tochter" lässt Kim Hye-Jin uns schließlich das Wichtigste wissen: Mütter sind - wie wir alle - auch nur Menschen:
Tief drin ist noch immer dieser Teil von mir, der gar nichts verstehen will. Da ist aber auch ein Teil, der alles verstehen möchte, und einer, der vorsichtig aus der Distanz beobachtet. Leseprobe aus "Die Tochter"