Antisemitismus: Das Schweigen der Clubszene zum Nahost-Konflikt
Politische Solidarität verbreitet sich auf Social Media oft ganz schnell. Umso auffälliger ist gerade das Schweigen der Kulturszene zum Nahost-Konflikt. Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Jakob Baier.
Nach dem Hamas-Angriff und dem Massaker bei einem Trance-Festival am 7. Oktober in Israel hat sich die Clubszene nur schleppend solidarisiert. Warum ist das so? Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Jakob Baier, der an der Universität Bielefeld zum Thema Antisemitismus im Kulturbetrieb, insbesondere in Subkulturen forscht.
Herr Baier, es gibt regelrechte Kampagnen, die schon in den vergangenen Jahren in der Kulturszene für Aufsehen gesorgt haben. BDS zum Beispiel ruft zum Boykott gegen Israel auf, gegen Kulturproduktion und Unternehmen, die mit Israel sympathisieren. Auch Spielstätten wie Kampnagel oder Golden Pudel Club in Hamburg stehen auf der Zielschreibe des BDS. Können Sie erklären, was diese Kampagne genau ist und wie sie wirkt?
Jakob Baier: BDS steht für Boycott, Divestment and Sanctions. Die Bewegung hat zum Ziel, Israel auf der Ebene der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Kultur zu isolieren. Es geht nicht nur um staatliche Institutionen, die boykottiert werden sollen, sondern es geht um die israelische Gesellschaft als Ganzes. Das heißt, es werden auch Individuen boykottiert, unabhängig davon, wie sie beispielsweise zur israelischen Politik stehen. Die Programmatik ist teilweise sehr vage, teilweise aber auch sehr explizit. Ein Ziel ist etwa, dass alle palästinensischen Flüchtlinge nach Israel zurückkehren sollen. Das würde nichts anderes bedeuten als die Zerstörung Israels als jüdischer und demokratischer Staat. Ich würde zusammenfassend sagen, dass sowohl die Programmatik von BDS als auch die Rhetorik und die Methoden auf eine Delegitimierung und vor allem auf eine Dämonisierung des jüdischen Staates abzielen.
Die Clubszene versteht sich als weltoffen und als inklusiv, als Raum für alle. Beim Thema Antisemitismus scheint das aber anders auszusehen - warum?
Baier: Es ist zum einen so, dass es so ein Selbstverständnis innerhalb der Szene gibt, dass man links, progressiv, antirassistisch ist, auf der moralisch guten Seiten steht. Das versperrt häufig den Blick auf den Antisemitismus im eigenen Umfeld. Zum anderen würde ich sagen, dass es sehr häufig ein falsches Verständnis von Antisemitismus gibt. Es wird häufig so getan oder behauptet, dass man gegen Rassismus sei und deswegen auch gegen Antisemitismus. Es wird erklärt, dass Antisemitismus eine Unterform von Rassismus ist. Dem ist aber nicht so. Antisemitismus hat sich verstärkt im 19. Jahrhundert entwickelt, auch in der Zeit der Rassentheorien. Das heißt, Rassismus und Antisemitismus sind historisch in ihrer Entstehung und in ihrer Verbreitung miteinander verflochten, aber der Rassismus geht von einer Minderwertigkeit von rassifizierten Menschengruppen aus. Im antisemitischen Weltbild ist das anders: Darin erscheinen Jüdinnen und Juden als minderwertig, aber auch als übermächtig zugleich. Das heißt, es gibt so eine höchst ambivalente Objektbeziehung und auch eine andere Projektionsleistung. Jüdinnen und Juden werden im antisemitischen Weltbild nicht dafür gehasst, dass sie angeblich böse Dinge tun, sondern sie werden dafür gehasst, dass sie das Böse schlechthin sind. Deswegen tendiert der Antisemitismus im äußersten Fall auch in die Vernichtung, weil es darum geht, das Böse aus der Welt zu schaffen.
Wir können bei Social Media beobachten, dass zum Beispiel queere DJs und Musikerinnen und Musiker, die häufig selbst von Diskriminierung betroffen sind, sehr aggressive, verschwörerische und oft auch ganz verkürzte Posts zum Nahost-Konflikt veröffentlichen. Wie erklären Sie sich, dass Menschen, die selbst Diskriminierung erfahren haben, plötzlich so auftreten?
Baier: Das kann ich nicht sagen. Da müsste man tatsächlich die Leute selbst fragen. Es ist aber zu beobachten, dass es gerade unter DJs ein sehr großes und fast schon narzisstisches Bedürfnis nach Bedeutsamkeit im Social Media-Diskurs gibt. Es gibt zum einen überaus großes Sendungsbewusstsein und gleichzeitig eine frappierende Unwissenheit hinsichtlich Israel, hinsichtlich der Geschichte des Konflikts und auch der aktuellen politischen Zusammenhänge. Das geht so weit, dass die bekannte DJane Mama Snake kurz nach den Anschlägen einen "Free Palestine"-Post absetzt und ein Emoji der jordanischen Flagge hinzufügt und nicht der palästinensischen. Daran sieht man, dass Faktenwissen da offensichtlich eine eher untergeordnete Rolle spielt.
Und die Fronten scheinen sich zunehmend zu verhärten. Haben Sie eine Prognose, wie es weitergeht?
Baier: Es ist schwer, eine Prognose zu erstellen, und es ist auch schwer, eine Zauberformel zu präsentieren, wie dagegen vorzugehen ist. Grundsätzlich müssen wir einen Dreischritt verfolgen, und zwar bestehend aus Prävention, Intervention und Repression. Prävention bedeutet, dass wir in der Bildung ansetzen müssen, dass wir über Antisemitismus aufklären müssen, dass wir kritische Medienbildung betreiben müssen. Wir müssen aber auch intervenieren, bei Fällen von Antisemitismus klare Grenzen setzen, vor allem Betroffene schützen. Das ist ganz wichtig. Im äußersten Fall müssen wir auch zu repressiven Maßnahmen greifen. Das heißt: Personen zurückzuweisen, sie notfalls auch sozial auszuschließen und auch die Mittel des Rechtsstaats auszuschöpfen. Das klingt in der Theorie immer einfacher als in der Praxis, aber ich glaube, wir stehen vor extrem großen Herausforderungen. Wenn ich beispielsweise einen Blick auf TikTok werfe, eine Social-Media-Plattform, die vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sehr beliebt ist, dann sieht man eine wahre Flut an Fake-News, an antisemitischen Inhalten. Da muss man auch die Anbieter in die Pflicht nehmen, dass sie diesen Content nicht zulassen.
Eine Sache möchte ich auch noch hinzufügen: Ich weiß aus der eigenen Erfahrung in der Arbeit mit Jugendlichen, dass die wenigsten Jugendlichen ein ideologisch geschlossenes Weltbild haben. Sie sind in der Regel erreichbar für Argumente und Präventionsmaßnahmen. Das heißt, sie sind in ihrem Weltbild noch zu irritieren.
Wenn Sie über die Posts sprechen, die Leute absetzen: Ich habe zuletzt ganz gute Erfahrungen gemacht, Personen anzusprechen, die kritikwürdige Inhalte gepostet haben, und sie gefragt, ob sie wissen, was sie da posten, woher das stammt und welche Implikationen damit verbunden sind. Daraus haben sich tatsächlich recht konstruktive Gespräche entwickelt. Generell ist den Leuten zu sagen, die solche Sachen posten: Mit schnellen, impulshaften Online-Postings, in denen Falschnachrichten und Halbwahrheiten verbreitet werden, hilft man gerade niemandem, weder den Menschen in Israel noch denen in Gaza.
Das Interview führte Julia Westlake.