70 Jahre Fußgängerzone: Auf der Suche nach Leben in der Shoppingmeile
Die Idee der Stadtplaner vor 70 Jahren war visionär: Sie wollten eine Straße schaffen, die nur Fußgängern und Radfahrern gehört. Am 12. Dezember 1953 wurde die Holstenstraße in Kiel autofrei gemacht. Wie steht es heute um Fußgängerzonen in Deutschland?
Eine Straße nur für die Fußgänger - ganz ohne Autos - und das in bester Lage: Nur noch an den Tagen vor Weihnachten sieht es in der Holstenstraße in Kiel so belebt aus wie jetzt. Ulrich Brinkmann ist Architekturkritiker und hat Fußgängerzonen in Deutschland anhand von alten Postkarten gesammelt und analysiert. Von der Kieler Holstenstraße ist er am meisten fasziniert: "Wenn wir uns die Holstenstraße angucken, ist das erstmal vom Raumprofil her eine schöne Straße. Die ist nicht zu breit, die ist nicht zu niedrig bebaut, aber auch nicht zu hoch und nicht zu steil. Eigentlich fühlt sich das gut an."
Fußgängerzone: Sinnbild des deutschen Wirtschaftswunders
Damals, 1953, war es eine radikale Idee: Die Autos wurden aus der Holstenstraße verbannt, der Verkehr umgeleitet. Die Kaufleute waren anfangs dagegen: Sie befürchteten Einbußen, wenn die Autos nicht mehr fahren. Doch das Gegenteil war der Fall: Die Kieler kauften in ihrer Fußgängerzone gerne ein; die Umsätze der Einzelhändler stiegen zwischen 30 bis 50 Prozent. Ein Sinnbild des deutschen Wirtschaftswunders!
Und heute? Sind die Zeiten andere, weiß Ulrich Brinkmann, und zeigt auf eine alte Postkarte: "Die Holstenstraße war früher definitiv einladender. Die Werbeanlagen, die Vordächer, diese Neonschriftzüge, das Licht, die Filigranität, mit der solche Schaufenstervitrinen in den Stadtraum ragten: Das hatte damals eine ganz andere Sorgfalt und eine ganz andere gestalterische Qualität als es sie heute hat. Das ist eigentlich schade."
Hohe Mieten, Shopping Malls, Internet
Heute wird die Fußgängerzone eher als Problemzone wahrgenommen, auch in Kiel. Zuerst kamen die Konsumtempel im Vorort - sogenannte Shopping Malls - und jetzt kaufen alle im Internet. Das kleine inhabergeführte Gewerbe hat es immer schwerer. Daniel Hacker ist Inhaber des Textilgeschäfts Meislahn. Er ist selbst an der Holstenstraße aufgewachsen und hat schon viele Einzelhändler kommen und gehen sehen. Die hohen Mieten sind heute selbst für Gewerbetreibende ein Problem, erzählt er: "Hätten wir ein anderes Mietniveau, wäre plötzlich für andere Konzepte das Ganze wesentlich interessanter, weil die sagen: Bei der Miete komme ich aber auch mit meiner Beratungsleistung, die auch Geld kostet, trotzdem noch unterm Strich auf einen grünen Zweig. Aber diese Hochmieten - das ist ein Riesenproblem. Das geht heute so kaum noch."
Neue Wege für inhabergeführte Geschäfte finden
Die Fußgängerzone steckt in einer Identitätskrise: Schnell ist von Leerstand, Verödung, Verwahrlosung die Rede. Was macht man mit den Konsumzonen in unseren Innenstädten, denen der Konsum abhanden gekommen ist? Auch in Kiel fragen sich das die Einzelhändler.
In einer Seitenstraße der Holstenstraße betreibt Peter Vagt das Feinkostgeschäft "Heyck's Kaffee" in dritter Generation. Er wünscht sich eine Rückbesinnung: "Wir müssen neue Wege finden. Wie kann ich die Innenstadt auch mit Wohnraum, der sowieso knapp ist, neu beleben und gleichzeitig die Geschäfte verkleinern? Dass es mehrere kleinere Geschäfte gibt, so dass auch kleine inhabergeführte Geschäfte die Chance haben, in der Holstenstraße wieder Platz zu finden." Im Laden von Peter Vagt duftet es nach Kaffee und Tee. Hier im Café soll Konsum ein sinnliches Erlebnis sein.
Den "Glamour alter Tage" zurückholen
Für Architekturkritiker Ulrich Brinkmann kann das eine Lösung sein, den "Glamour alter Tage" wiederzuentdecken. Gerade in den Seitenstraßen würden sich noch solche alten Schätze finden, glaubt Brinkmann. Diese müsse man erhalten und in die Fußgängerzonen zurück holen, sagt er: "Die Zyklen der Erneuerung sind viel zu rapide. Alle 20, 30 Jahre gibt es eine Umgestaltung. Es wird aber nicht so investiert, dass das, was man dann macht, altern kann, patinieren kann. Es ist nach 20, 30 Jahren kaputt und muss wieder erneuert werden."
In Kiel versucht man trotzdem, neue Wege zu gehen. Die Stadt gab der Universität mehrere Läden an der Fußgängerzone. Gründer sollen mit ihren Ideen unterstützt werden, ein Coworking-Space ein jüngeres Publikum anlocken. Auch das könne helfen, glaubt Ulrich Brinkmann: "Fußgängerzonen sind wichtig als Begegnungsort. Sie sind mitten in der Stadt, nicht nur Laufflächen von A nach B, rauf und runter, sondern es gibt oft Verweilzonen und Plätze, die sich öffnen: Gastronomie vielleicht, wenn man Glück hat, auch mal ein Kino oder ein anderes Kulturangebot, ein Theater. Tendenziell könnten diese Orte sehr viel lebendiger sein, als sie es heute sind." Nicht nur Konsum, sondern ein Mix bringt das Leben zurück in die Fußgängerzone. Es klingt so einfach.