Stand: 23.02.2023 18:00 Uhr

1941: Überfall auf die Sowjetunion, erste systematische Ermordungen von Juden, Scheitern des "Blitzkriegs"

von Hajo Funke, Politikwissenschaftler

Der Angriff auf die Sowjetunion begann am 22. Juni 1941 - zur Überraschung der Moskauer Führung. Hitler wollte in diesem angeblichen "Präventivkrieg" einem "Komplott" von London und Moskau zuvorkommen. (Nachama 2021: 234 f.)

Der Flug des Rudolf Heß nach Schottland

Die Planung zum "Unternehmen Barbarossa" war kurzzeitig durch den nicht abgesprochenen Flug des Stellvertreters des Führers, Rudolf Heß, am 10. Mai 1941 nach Großbritannien erschüttert worden.

Kujau "berichtet" fantasievoll von den angeblichen strategischen Überlegungen; dabei kann seine Hitlersche Fantasie nicht von der Deutung lassen, dass Heß im Sinne des "Führers" gehandelt habe. Er kann sich in seiner Fantasie allerdings auf das tatsächliche, früher ventilierte Motiv von Hitler beziehen, der immer wieder versucht hatte, mit Großbritannien zu einer Übereinkunft zu kommen; dies war aber 1941 längst nicht mehr der Fall. In der NS-Führung wurde dieser Flug als Skandal wahrgenommen, weil er die Planung für das "Unternehmen Barbarossa", das so gut wie möglich geheim gehalten werden sollte, aufgrund der großen internationalen Irritation in Gefahr zu bringen vermochte.

Kujau unterstellt, gewiss auch informiert vom rechtsextrem orientierten Sohn des (ehemaligen) stellvertretenden Parteivorsitzenden der NSDAP Rudolf Heß, dass dieser in Absprache mit Hitler seinen Flug unternommen habe. Es gehört zu den radikal-rechten, auch von Irving verbreiteten Mythen, dass Großbritannien eine letzte Chance für Frieden vergeben habe. Historisch lässt sich dazu nichts in seriösen Darstellungen auffinden. (Kershaw 2000: 497) Auch die Tagebuch-Aufzeichnungen von Goebbels legen das nicht nahe, im Gegenteil. Goebbels schreibt am 13. Mai 1941, der Führer sei "ganz zerschmettert. Welch ein Anblick für die Welt: Ein geistig Zerrütteter zweiter Mann nach dem Führer. Grauenhaft und unausdenkbar." (Zit. n. Reuth, 4. Bd., 1992: 1572)

Über die weltweite Irritation und die für Hitler negativen Folgen schreibt Goebbels über mehr als eine Woche. Tatsächlich ist Hitlers Autorität durch die unabgesprochene Handlung seines Stellvertreters irritiert: Der Historiker Ian Kershaw zeichnet die tatsächliche Krise des Regimes nach: "Dass der Stellvertreter des Führers in Großbritannien gefangen saß, war etwas, was das Regime in seinen Grundfesten erschütterte." (Kershaw 2000: 498) Ein Witz habe die Runde gemacht, "daß Heß zu Churchill bestellt worden sei. Churchill fragte: 'Sie sind also der Verrückte?' Worauf Hess antwortete: 'Oh nein, nur sein Stellvertreter. '" (Ebd. 496)

Kujau dazu, TB 1941/Sonderband Heß: "(…) Schon ab November 1940 lag mir Heß immer in den Ohren, er glaube wie ich das England und Deutschland in Frieden zusammen leben könnten. Daß die Zerfleischung unserer beiden Völker nur einen Genugtuung bereiten würde, nämlich dem alten Fuchs in Moskau Stalin. Wie aber könnte man den großen Deutschenhasser Churchill ausschalten? Heß hatte den Plan, nach England zu fliegen und mit dem Herzog v. Hamilton zu verhandeln, da er vermutete, daß dadurch ihm in England ohne Churchill Aufmerksamkeit geschenkt wird. Mir war nicht gut, bei diesem Vorschlag und ich sagte ließ man müsse noch andere Überlegungen anstellen, um Churchill gleich von vornherein auszuschalten.

So gab ich (…) die Erlaubnis, mir seinen Plan, sollte er ihn ausgearbeitet haben, vorzulegen.

Der Plan 1) Sollte die Mission gelingen und Heß hat Erfolg, hat er mit meinem Einverständnis gehandelt. 2) Wird Heß als Spion in England gefangen gesetzt, so hat er mich früher einmal von seinem Plan in Kenntnis gesetzt, ich aber habe abgelehnt. 3) Sollte seine Mission total fehlschlagen, erkläre ich, Heß habe in einer Wahnvorstellung gehandelt."

"Unternehmen Barbarossa"

In "Mein Kampf" hatte Adolf Hitler die angeblich drohende Gefahr vonseiten des "jüdischen Bolschewismus" beschworen. Er verschränkte nun den geplanten Angriff auf die Sowjetunion mit dieser vermeintlich von Juden und Kommunisten ausgehenden Gefahr. (Nachama 2021: 226) Am 30. März 1941 kündigte Hitler in einer Rede vor 200 Befehlshabern der Wehrmacht einen rassenideologischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion an; sechs Wochen später sicherte er völlige Straffreiheit für völkerrechtswidrige Terrormaßnahmen gegen die sowjetische Bevölkerung zu. Die "Richtlinien" des berüchtigten "Kommissarbefehls" wurden unter federführender Leitung von Generaloberst Alfred Jodl, Chef des Wehrmachtführungsstabes beim Oberkommando der Wehrmacht (OKW), festgelegt.

Der Befehl wurde am 6. Juni 1941 kurz vor dem "Unternehmen Barbarossa" erlassen und sollte an die Kommandeure nur mündlich weitergegeben werden. Im Befehl, für dessen Formulierungen Generalstabschef Franz Halder "maßgebliche Verantwortung" trug, heißt es: "Politische Kommissare als Organe der feindlichen Truppe sind kenntlich an besonderen Abzeichen – roter Stern mit golden eingewebtem Hammer und Sichel auf den Ärmeln. (…) Sie sind aus den Kriegsgefangenen sofort, d. h. noch auf dem Gefechtsfelde, abzusondern. Dies ist notwendig, um ihnen jede Einflussmöglichkeit auf die gefangenen Soldaten abzunehmen. Diese Kommissare werden nicht als Soldaten anerkannt; der für die Kriegsgefangenen völkerrechtlich geltende Schutz findet auf sie keine Anwendung. Sie sind nach durchgeführter Absonderung zu erledigen."

Der (geheime) "Kommandobefehl" erging ein gutes Jahr später am 18. Oktober 1942 auf Weisung Adolf Hitlers; danach waren Angehörige alliierter Kommandotrupps unverzüglich zu töten oder dem Sicherheitsdienst des Reichsführers SS (SD) zu übergeben. Der Befehl wurde von der Abteilung Wehrmachtführungsstab im Oberkommando der Wehrmacht (OKW) als Geheime Kommandosache ausgefertigt, von Hitler unterzeichnet und in zwölf Ausfertigungen an höchste Wehrmachtstellen verteilt.

Am 31. Juli 1941 erhielt SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich den Auftrag, die Vernichtung der Juden in West- und Mitteleuropa vorzubereiten. Im September hatten Juden in Deutschland einen gelben Judenstern zu tragen und der Völkische Beobachter behauptete am 13. September, der deutsche Soldat habe im Ostfeldzug den Juden in seiner ganzen Widerwärtigkeit und Grausamkeit kennengelernt. (Ebd. 238) Das "Altreich" und das Protektorat sollten möglichst bald vom Westen nach dem Osten von Juden "geleert" werden. Am 18. Oktober verließ der erste Transport mit 1013 Menschen den Bahnhof Berlin-Grunewald in Richtung Litzmannstadt. Seit dem 23. Oktober durften "deutsche Staatsangehörige jüdischer Rasse" nicht mehr auswandern. Damit einher ging der Beginn systematischer Deportationen von Juden aus dem Deutschen Reich nach Osten.

Kujau: Erfundene Termine, Leugnungen der Ermordung der Juden durch strikte Auslassung

Von grotesker Spekulation sind die "Tagebuch"-Einträge Kujaus insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses von Hitler und Himmler. Ohne Beleg und ohne Berücksichtigung des Stands der historischen Forschung bereits der 1980er-Jahre geht Kujau hinsichtlich der Entfesselung mörderischer "Judenpolitik" nach dem Angriff auf die Sowjetunion von einem Spannungsverhältnis zwischen zwei Hauptakteuren - Hitler und Himmler - aus. Kujau vermittelt den Eindruck, Hitler habe in Sachen "Judenpolitik" vergeblich versucht, Himmler Anweisungen zu geben, und Himmler hätte nicht "geliefert". Hieße das, nach Kujau seien weder Hitler noch Himmler für die Ermordung der europäischen Juden verantwortlich gewesen? Das gilt alles in allem für die Einträge seit dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 bis ins Jahr 1944. Es würde zumindest mit den Ideen der (Neo-)Nationalsozialisten und ehemaligen SS-Angehörigen korrespondieren, in deren Umfeld sich Kujau Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre bewegt haben soll.

Kujau erklärt Hitler für unschuldig am Holocaust, fantasiert Termine, die nicht stattgefunden haben, und lässt entscheidende realisierte Treffen von Hitler und Himmler zur "Lösung der Judenfrage" unerwähnt. Im Folgenden nur einige Beispiele für die Grobheit der Fälschungen von Kujau.

TB 11.6.1941: "Morgenlage. Nochmals Besprechung mit SS-Führern und dem Reichsführer SS Himmler. Es geht um die Aufgaben der SS im Osten."

Für das von Kujau behauptete Treffen zwischen Hitler und Himmler, das Kujau für den 11. Juni 1941 einträgt, findet sich in der einschlägigen Literatur kein Beleg, im Gegenteil. Am 11. Juni hielt sich Hitler tatsächlich im Berghof in Obersalzberg auf. Himmler traf als Erster zur Tagung vom 11. bis 15. Juni in der Wewelsburg bei Paderborn ein, um die höchsten SS-Führer auf die Mordaktionen der Einsatzgruppen nach dem geplanten Angriff auf die Sowjetunion einzustimmen. (Schulte 2009: 5) An der Tagung nahmen u.a. die Polizeichefs Daluege und Heydrich und die für den Einsatz der Einsatzgruppen vorgesehenen Führer der SS Prützmann, von dem Bach-Zelewski und Jeckeln sowie der Dichter Hanns Johst teil. (Longerich 2008: 540) Hitler war am 13. Juni wieder in Berlin und traf Himmler in den folgenden Tagen mehrfach, so am 16., 17. und wohl 20. und 21. Juni zum Mittagessen. In den Fälschungen wiederum ist davon keine Rede.

Die gegenwärtig verfügbare präziseste Rekonstruktion der Aufenthalte und Treffen Adolf Hitlers in der zweiten Jahreshälfte 1941 findet sich bei Harald Sandner (2016). Sie zeigt, wie oft sich Hitler und Himmler vielfach zur Planung der Ermordung von Hunderttausenden von Juden trafen. Laut Sandners Hitler-Itinerar trafen sich Hitler und Himmler am 16. und 17. August, am 4., 5., 7., 17., 22. und 23. September 1941. Am 17. September begann die umfassende Deportation deutscher Juden in den Osten, am 29. September eroberte die Wehrmacht Kiew und es kam mit Unterstützung von SS und Wehrmacht zur Ermordung von über 30.000 Jüdinnen und Juden in Baby Jar bei Kiew. Bei Kujau ist davon keine Rede.

Ich habe im Folgenden die Äußerungen Kujaus zur angeblichen Politik Hitlers für die Monate nach dem Beginn des "Unternehmens Barbarossa" zusammengezogen. Frappierend ist, dass nach Kujau die "Judenfrage" weder 1941 noch 1942, wie sich ebenfalls zeigen wird, angegangen oder sogar geklärt wurde. Es bleibt bei den Äußerungen "Hitlers" vor allem über Himmler, aber auch Heydrich, diese Frage müsse man doch klären. Entscheidend ist: Es fällt bei Kujau kein Wort darüber, wie die "Judenfrage" angegangen wurde - durch die Entfesselung des Holocaust, zunächst durch die Massakrierung Hunderttausender durch die Einsatzgruppen der SS im Schatten der voranstürmenden Wehrmacht, oft mit ihr; die gleichzeitige Erfassung der Juden ab Oktober auch im sogenannten Altreich, ihre Deportation und der Beginn der Ermordung in Todeslagern, die dazu im Laufe der zweiten Hälfte des Jahres 1941 systematisch errichtet werden: in Chelmno, Belzec, Sobibor, Treblinka und Auschwitz.

TB 31.7.1941: "Morgenlagebesprechung. (…). Göring übergiebt SS-Führer Heydrich die von ihm ausgearbeitete Denkschrift, wonach er die Aufgabe bekommt eine Lösung des Judenproblems zu finden. Wir können es uns nicht mehr leisten, diese Leute zu verpflegen, da sie weder in der Wirtschaft noch an den Fronten etwas leisten. Heydrich soll die Juden zur schnellen Auswanderung bringen, oder soll ihnen einen Landstrich in den besetzten Gebieten suchen, wo sie sich selbst ernähren und verwalten können. Ich schlage wieder einen Teil von Ungarn vor."

TB 8.8.1941: "Morgenlagebesprechung. Berlin meldet einen schwachen russischen Luftangriff. Stalin will scheinbar zeigen, das er als Oberbefehlshaber andere Seiten aufzieht. Hätte auch nicht gedacht, das die russische Luftwaffe dazu noch imstande wäre. Erbitte nun bald einen Bericht wegen der Juden. Was wird dieser Heydrich bisher unternommen haben. Habe auch Weisung gegeben, Himmler soll sich auch mal den Kopf zerbrechen."

TB 20.8.1941: "Morgenlagebesprechung. Die italienische Flotte erlitt wieder eine Schlappe. Unsere Truppen erobern Cherson. Gebe Bormann Weisung er soll für Himmler eine wirklich kriegswichtige Aufgabe finden. Auch hat dieser Heydrich mir noch keinen Plan wegen der Judenfrage vorgelegt. Adolf Hitler"

TB 23.8.1941: "(…) In England hat ein französischer General ein provisorisches Komitee gebildet und dieses gleich wieder in Nationalkomitee umgewandelt. Wieder ein Gebäude dieses Churchills. Einige SS-Führer bei mir. Schreite die Judenfrage an."

TB September 1941: "Der Kampf wird immer härter. Göring hat mir einige Berichte geschickt über neue Antriebe für Flugzeuge. Muß diese Berichte erst in Ruhe lesen und mir erläutern lassen. Wann wird endlich Schluß gemacht mit der Spionage und Sabotage der Juden und ihr geheimes Spiel. Ab heute müssen diese Juden gekennzeichnet sein. Werde auch mit Himmler und Göring ernstlich sprechen müssen. Adolf Hitler"

TB 3.10.1941: "Morgenlage. Unsere Truppen erobern Orel. Unterzeichnung der Verordnung zur Arbeitspflicht für Juden im Reiche. Großkundgebung im Sportpalast zur Eröffnung des Kriegswinterhilfswerkes."

Wir haben eine ganz ähnliche Taktik, aber mit viel mehr Text und Material und deswegen zeitweise sogar gewürdigt bei David Irving gesehen, dessen manipulative Selektion von realen oder vermeintlichen historischen Dokumenten auch die seriöse Geschichtsforschung jahrelang in Bann gehalten hat, ehe Irving Ende der 1980er-Jahre dazu überging, die Gaskammern von Auschwitz mit einem sogenannten "Leuchter-Report" zu bestreiten und in das Lager der entschiedenen Holocaustleugnung zu wechseln.

Tatsächliche systematische Ermordung durch die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei

Hinter der Front begannen die etwa 3.000 Mann starken Einsatzgruppen tatsächlich umgehend mit der systematischen Ermordung der in diesen Gebieten lebenden Juden und kommunistischen Funktionäre. (Vgl. Nachama 2021: 236) Innerhalb weniger Monate wurden Hunderttausende bei Massenerschießungen ermordet oder in sogenannten Gaswagen erstickt. Ebenso verloren 30.000 Roma und 17.000 Patienten psychiatrischer Anstalten ihr Leben.

Am 29. Juni 1941 - eine Woche nach dem Angriff auf die Sowjetunion - erhielt das Führungspersonal der Einsatzgruppen mündliche und auch schriftliche Anweisungen, "Selbstreinigungsbestrebungen" (Pogrome) unter der jüdischen Bevölkerung zu fördern. Sie seien "spurenlos auszulösen, zu intensivieren wenn erforderlich und in die richtigen Bahnen zu lenken", so Heydrich in seinem Schreiben an die Chefs der Einsatzgruppen. (Zit. n. Longerich 2001: 97) Noch deutlicher wurde Heydrich in einem Schreiben vom 2. Juli: "Zu exekutieren sind alle Funktionäre der Komintern …, die höheren, mittleren und radikalen unteren Funktionäre der Partei, der Zentralkomitees, der Gau- und Gebietskomitees, Volkskommissare, Juden in Partei- und Staatsstellungen, sonstigen radikalen Elemente (Saboteure, Propagandeure, Heckenschützen, Attentäter, Hetzer usw.)." (Zit. n. ebd. 98) Beide Anweisungen sind klare Hinweise auf eine qualitative Ausdehnung der tödlichen Gewalt, die bereits Ende März 1941 Besprechungsgegenstand zwischen Göring und Heydrich war.

Zentrale Schaltstellen für den Massenmord in den besetzten sowjetischen Gebieten stellten die drei Höheren SS- und Polizeiführer, Erich von dem Bach-Zelewski, Friedrich Jeckeln und Hans-Adolf Prützmann, dar, die des Öfteren persönlich an den Massenmorden mitwirkten. (Vgl. Longerich 2001: 98–106 und Funke 2019: 138–144, auch im Folgenden)

Sie koordinierten die SS- und Polizeikräfte für die großen Mordeinsätze:

  • die Einsatzgruppe A im Baltikum (mit Walter Stahlecker als Befehlshaber und weiteren wie Martin Sandberger)
  • die Einsatzgruppe B in Weißrussland (unter Arthur Nebe und weiteren wie Erich Ehrlinger, später Leiter der Einsatzgruppe B)
  • die Einsatzgruppe C in der Ukraine und im südlichen Russland (unter Otto Rasch)
  • die Einsatzgruppe D in Rumänien und am Rande des Schwarzen Meeres (mit Otto Ohlendorf und weiteren wie Gustav Nosske)
  • die Einsatzgruppe "zur besonderen Verwendung", die 1. Kavalleriebrigade und die 1. SS Infanteriebrigade (in der Nordukraine und im Süden Weißrusslands)

Die Entfesselung der Ermordung der europäischen Juden fand bei aller örtlichen und taktischen Unterschiedlichkeit auf allen Ebenen und Schauplätzen parallel statt: Sie begann schon Ende Juni im Norden durch die Einsatzgruppe A und wurde in den folgenden Wochen und Monaten auf der gesamten Breite des neu eroberten Territoriums der Sowjetunion fortgeführt.

Überraschend schnelle Landgewinne innerhalb weniger Wochen nach dem Angriff auf die Sowjetunion und die Nahezu-Zerschlagung der Roten Armee hatten im Führungszirkel des NS-Regimes eine groteske Euphorie ausgelöst. Sie dürfte erheblich dazu beigetragen haben, dass in enger Abstimmung zwischen Himmler, Hitler und Goebbels die Mordpraxis beschleunigt wurde. Was zuvor nur in den paranoiden Träumen möglich schien, wurde zwischen Juli und Oktober in immer schnellerer Folge eröffnet, ausprobiert und zur Anweisung erklärt.

Die Anweisungen richteten sich nicht zuletzt auf die schnellste, günstigste, umfassendste und "unauffälligste" Methode der Ermordung. Bald aber schon verschwand diese Euphorie und wurde geradezu umgekehrt - wie die Tagebuch-Eintragungen von Goebbels zeigen. Sie konnten "Moskau" nicht besiegen. Manche Historiker vermuten, dass dies einen weiteren Schub in der Radikalisierung bewirkt habe. (Jersak 1999) Schon mit der Atlantik-Charta im August 1941 war der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten erheblich näher gerückt. Auch das Herannahen einer globalen militärischen Konfrontation nach dem Muster des Ersten Weltkriegs (die Vereinigten Staaten waren 1917 in den Krieg eingetreten und hatten entscheidend zur Niederlage Deutschlands und seiner Verbündeten Ende 1918 beigetragen) mag eine Art nunmehr apokalyptisch geprägter Entschlossenheit verstärkt haben.

Im Herbst 1941 wurden erstmals in Auschwitz sowjetische Kriegsgefangene und kranke Häftlinge mit dem hochgiftigen Desinfektionsmittel Zyklon B ermordet - jenem Mittel, das dann systematisch wenige Monate später in den Gaskammern von Auschwitz eingesetzt wurde. Christopher Browning (2003) argumentiert, dass Hitler während der Siegeseuphorie im Krieg gegen die Sowjetunion im Juli 1941 Himmler und Heydrich den Auftrag zu einer Machbarkeitsstudie für die massenhafte Ermordung der europäischen Juden erteilt habe, um dann im Oktober 1941 den Völkermord mithilfe der im Aufbau befindlichen Tötungsstätten in Gang zu setzen.

Diese Eskalationsstufe erfolgte parallel zum Entschluss Hitlers von Mitte September 1941, "die Juden des gesamten Reichsgebiets möglichst noch im laufenden Jahr in die eingegliederten polnischen Gebiete und im nächsten Frühjahr weiter nach Osten zu deportieren". (Zit. n. Longerich 1998: 581 f.) 25.000 "Juden und Zigeuner" sollten nach Lodz und je 25.000 Juden in die Gettos von Riga und Minsk deportiert und in den provisorischen Aufnahmeräumen ein Massenmord an den einheimischen Juden begangen werden: "Auch in den besetzten polnischen Gebieten (sollten) wie in der Sowjetunion seit Ende des Sommers 'judenfreie Räume' geschaffen werden." (Ebd. 582) In den Gettos von Minsk und Riga fanden entsprechend große Massaker unter der einheimischen jüdischen Bevölkerung statt.

Zur Umsetzung der Ermordung dehnten die Verantwortlichen das von Heydrich entwickelte "Zwangsarbeitsprogramm mit in jedem Fall tödlichen Folgen für die Betroffenen" zu einer "Vernichtung durch Arbeit" aus. (Ebd. 583) Himmler, Heydrich und die regionalen SS-Führer Greiser und Globocnik beschleunigten die Morde vor Ort.

Im August 1941 hatte Himmler die Erschießung von Juden und Partisanen mitverfolgt und war in Minsk durch das entstehende Getto gefahren, das wenig vorher auf zwei Quadratkilometern nordwestlich des Zentrums eingerichtet worden war. Bei dem Besuch Himmlers zusammen mit den höheren SS- und Polizeiführern von dem Bach-Zelewski und Prützmann in der psychiatrischen Anstalt in Novinki bei Minsk war es nach Aussagen Bachs darum gegangen, die "Irrenanstalt" mit weniger grausamen Mitteln als einer Massenerschießung zu räumen. (Witte 1999: 195)

Anfang November wurde mit dem Bau des ersten Vernichtungslagers Belzec begonnen, im Dezember wurden die Mordspezialisten der T4-Aktion nach Belzec beordert. Die Ermordung sollte mithilfe von Abgasen aus einem fest installierten Motor erfolgen. Im Warthegau setzte das Sonderkommando Lange in Chelmno Gaswagen zur Ermordung von Juden ein. Man stellte Versuche mit dem Giftgas Zyklon B an. Ende 1941 wurde der Bau eines zweiten Vernichtungslagers in Sobibor vorbereitet, wenig später der Bau Treblinkas. Diese Vernichtungslager der "Aktion Reinhardt" standen unter der Leitung Odilo Globocniks, der im Distrikt Lublin/Generalgouvernement herrschte.

Am 8. Dezember begann im Lager Chelmno die Ermordung. Ab Ende 1941 waren Gaswagen auch in den besetzten sowjetischen Gebieten, und zwar im Einflussbereich aller vier Einsatzgruppen, im Gebrauch. (Longerich 2001: 122 f.) Vorbereitungen zum Bau von Vernichtungslagern, die indes später als nicht mehr nötig erschienen, gab es ebenfalls in Riga, vermutlich auch in Mogilew östlich von Minsk und damit in der Nähe all jener Gettos, die als Ziele für die Deportationswellen aus dem Deutschen Reich ausgewählt worden waren. (Ebd. 125)

Weiterer Kriegsverlauf

Mit der Ende Oktober einsetzenden Schlamm- und späteren Winterperiode war klar, dass die größenwahnsinnige Vorstellung Hitlers, in drei Monaten die Rote Armee zu besiegen und in Moskau einzurücken, gescheitert war. Der Angriff der Wehrmacht auf weitere Gebiete der Sowjetunion und auch auf Moskau war gestoppt; Hitler befahl nicht nur die Belagerung, sondern die Zerstörung Moskaus (ohne Erfolg) und die tödliche Belagerung von Leningrad, mit nach Schätzungen mehr als einer Million Toten. Immer mehr trat an die Stelle einer "flexiblen Feldherrnstrategie" eine Art Befestigungsmentalität, die jeden kriegstaktischen Rückzug ausschloss und im Herbst und Winter 1942 zur Niederlage in Stalingrad beitrug.

Als Mitte Dezember die sowjetische Gegenoffensive aus Moskau und rund um Moskau einsetzte, die Japaner die Vereinigten Staaten angriffen und NS-Deutschland den Vereinigten Staaten den Krieg erklärte, dürfte sich die zerstörerische und selbstzerstörerische, apokalyptische Entschlossenheit der NS-Führung noch einmal vertieft haben. Durch das Handeln der NS-Führung selbst war der Weltkriegsfall eingetreten. Am 12. Dezember 1941, einen Tag, nachdem Hitler die deutsche Kriegserklärung an die USA im Reichstag verkündet hatte, sprach Hitler erneut von der Vernichtung der Juden: "Bezüglich der Judenfrage ist der Führer entschlossen, reinen Tisch zu machen." (Goebbels, zit. n. Longerich 2001: 138)

Victor Klemperer schreibt dazu: "31. Dezember: (…) Dass es unser grausigstes Jahr war, grausig durch eigenes reales Erleben, grausiger durch ständige Bedrohtheit, am grausigsten durch das, was wir andere leiden sahen (Evakuierung, Morde)" (Klemperer 2015: 578)

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