Stand: 23.02.2023 18:00 Uhr

1940: Siege Hitlers im Westen, Vorbereitung des Angriffs auf die Sowjetunion, Radikalisierung der Politik gegen Juden

von Hajo Funke, Politikwissenschaftler

In den gefälschten "Tagebüchern" Kujaus findet sich eine Kette von angeblichen Äußerungen im Januar 1940, die durch die Gegenkontrolle der einschlägigen darauf bezogenen Untersuchungen nicht gedeckt erscheinen. Datiert auf den 8., 10., 11. und 18. Januar 1940, erwähnt Kujau eine "Lösung der Judenfrage im Osten", die es laut der akribischen Untersuchungen von Kershaw über Hitler und Longerich über Himmler nie gegeben hat. Ebenso wenig laut der gewöhnlich ausführlichen Tagebuch-Einträge von Joseph Goebbels für den Januar 1940. (Longerich 2008: 512)

Noch irritierender ist, dass für das gesamte Jahr keine weiteren Einträge Kujaus zur sogenannten Lösung der Judenfrage verzeichnet sind, nicht einmal zu der 1940 besonders relevanten Frage einer territorialen Lösung im sogenannten Madagaskar-Projekt. Fraglich ist darüber hinaus, ob Hitler, wenn er ein Tagebuch geschrieben hätte, tatsächlich zwischen (militärisch) "Morgenlage" und (ungewöhnlich) "Morgenlagebesprechung" variierte hätte, dies aber ist bei Kujau der Fall.

TB 8.1.1940: "Morgenlage - Meldung: Das offensive Minenunternehmen unserer Marine gegen die Themsemündung wurde erfolgreich beendet. Empfange einige Führer der SS zu einer geheimen Besprechung. (Judenfrage im Osten)."

TB 10.1.1940: "Morgenlagebesprechung. Wieder Besprechung mit Führern der SS wegen der Judenprobleme im Osten. Ich beauftrage den Reichsführer der SS mit der Ausarbeitung von Plänen, wie wir dieses Problem regeln können. Man sollte ein Gebiet finden, wo die Ostjuden leben, und arbeiten können, ohne anderen Völkern Schaden zu bringen. Ich gebe nochmals vor versammelten Generalen meinen endgültigen Entschluß bekannt, die Westoffensive am 17. dieses Monats zu beginnen. Gebe den versammelten Parteiführern bekann, das für das Judenproblem der Reichsführer SS verantwortlich ist."

TB 11.1.1940: "Morgenlagebesprechung. (…) Himmler möchte einige extra Ämter schaffen, die sich mit der Judenfrage im Osten beschäftigen. Ich bin der Meinung, wir brauchen unsere Leute für andere Aufgaben, und die Zeit haben wir auch nicht. Nun merkt man den Buchhalter in Himmler, so habe ich ihn schon in der Kampfzeit eingeschätzt."

TB 12.1.1940: "Nochmals mit Himmler Besprechung bis spät am Abend, wegen der Judenfrage im Osten. Ich bin der Ansicht, man sollte die Arbeitskraft der Juden nützen."

TB 18.1.1940: "Die ersten Pläne des Reichsführers SS für die Lösung des Judenproblems im Osten werden mir übergeben. Wie pedandisch dieser Plan, lasse ihn gleich kommen, soll mir diesen Plan selbst erläutern, so brauche ich diesen nicht erst drei Stunden lesen."

Das "Madagaskar-Projekt"

Im März 1940 hatte Adolf Eichmann, Leiter des "Judenreferats" im Reichssicherheitshauptamt (RSHA), den Auftrag erhalten, die Verbringung der Juden nach Afrika, etwa nach Madagaskar, auf Realisierungsmöglichkeiten zu prüfen. In Deutschland zog sich die Schlinge um die als jüdisch definierte Bevölkerung weiter zu: Die Chancen zur Emigration wurden durch Krieg und geschlossene Grenzen immer geringer. Am 27. März ordnete Himmler als Reichsführer SS die Errichtung des Konzentrationslagers Auschwitz an. Im Frühsommer 1940, nach den Siegen im Westen, beschäftigte sich das NS-Regime konkret mit Planungen für eine "Endlösung der Judenfrage" durch Massendeportationen. Himmler übergab Hitler am 25. Mai eine Denkschrift über die "Behandlung der Fremdvölkischen im Osten". Er vertrat die These, "den Begriff Jude (…) durch die Möglichkeit einer großen Auswanderung sämtlicher Juden nach Afrika oder sonst in eine Kolonie völlig auslöschen zu sehen". Himmler sprach noch nicht von der physischen Ausrottung. (Longerich 2008: 524 f.) In wachsender Radikalisierung konzentrierten sich die antijüdischen Maßnahmen vermehrt auf Hans Franks Zivilverwaltung im Generalgouvernement, d.h. in den besetzten, nicht ins Deutsche Reich eingegliederten polnischen Gebieten, und zwar durch Gettoisierung und jüdische Zwangsarbeit. Im August 1940 erfolgte so etwa die Anordnung, die 400.000 in Warschau lebenden Juden hätten im Getto zu leben. Diese Entwicklung wurde von Eichmann aus dem RSHA weiter radikalisiert, durch Vorschläge zur "Judenauswanderung" aus dem Generalgouvernement. Schließlich erhielt Ende 1940/Anfang 1941 Heydrich, Chef des RSHA, von Hitler den Auftrag, ein nach dem Krieg zu verwirklichendes "Endlösungs"-Projekt auszuarbeiten; Hitler hatte den Auftrag sowohl über Himmler als auch über Göring an Heydrich weitergeleitet. Das streng geheim gehaltene Endziel der Deportationen waren die zu besetzenden sowjetischen Gebiete. (Longerich 2008: 528)

Kriegsgeschehen und "Judenpolitik" 1940

In Polen kam es unter der terroristischen Besatzungsherrschaft zu einer totalen Ausplünderung, zur Ermordung der polnischen Elite und der Drangsalierung der Juden. (Kershaw 2000: 383-452, auch im Folgenden) Die Rüstungsproduktion in Deutschland wurde weiter forciert. Am 9. April wurden Dänemark und Norwegen angegriffen. Während Dänemark in wenigen Tagen kapitulierte, wehrte sich Norwegen bis zum 10. Juni. Am 10. Mai begann der sogenannte Westfeldzug und die Besetzung der neutralen Staaten Niederlande, Belgien und Luxemburg, in der NS-Propaganda wie schon beim Angriff auf Polen im September 1939 als "Präventivkrieg" betitelt. Am 12. Mai begann der Feldzug gegen Frankreich - am 22. Juni wurde der Waffenstillstand mit Frankreich geschlossen - er fand da statt, wo er mit umgekehrten Vorzeichen am 11. November 1918 unterzeichnet worden war: in Compiègne.

Am 6. Juli feierte Hitler die Siege in einem wahren Triumphzug in Berlin. Sein Plan einer offensiven Kriegführung im Westen hatte sich als erfolgreich erwiesen. Die Mischung von Faszination und totaler Kontrolle im Reich schien zu gelingen. Hitlers ursprüngliche Pläne, Großbritannien zum Verbündeten zu gewinnen und die Welt untereinander aufzuteilen, waren gescheitert, er ging daher zum Angriff über. Am 13. August 1940 begann die Luftschlacht um England. Nach der Bombardierung Londons durch die Luftwaffe kam es in Berlin am 26. August 1940 zu ersten Luftangriffen der Royal Air Force auf Deutschland. Der Luftkrieg gegen England wurde im Frühjahr 1941 beendet; man benötigte die Flugzeuge für den Einsatz in der Sowjetunion. Mit dem "Unternehmen Barbarossa“, das am 22. Juni 1941 startete, sollte die Sowjetunion geschlagen werden - eine groteske Unterschätzung der Sowjetunion und ihrer militärischen Kapazitäten. Ian Kershaw dazu: "Im Dezember 1940 erging die Weisung für eine Invasion der Sowjetunion im folgenden Frühjahr durch Hitler. Ein Sieg in diesem Feldzug würde Deutschland den 'Lebensraum' verschaffen, den es nach Hitlers Ansicht brauchte und würde ihm die Möglichkeit zu einer 'Endlösung' der Judenfrage verschaffen, von der er und die NS-Führung von Anfang an besessen waren." (Zit. n. Nachama 2021: 219)

Kujau

Im November, als die Entscheidung gefallen war, alsbald im "Unternehmen Barbarossa" die Sowjetunion anzugreifen, zitiert Kujau die üblichen Anschuldigungen Hitlers, die amerikanische Administration, insbesondere Präsident Roosevelt, sei eine Marionette des internationalen Judentums. Kujau-Hitler drückt zugleich seine Sorge aus, dass Amerika in den Krieg eintrete.

TB 5.11.1940: "(…) Hinter diesem Roosevelt stehen in Amerika die Juden. Diese werden es noch schaffen, das Amerika in den Krieg eintritt, wenn ich nicht in Europa sofort genaue Verhältnisse schaffe. Dieser Roosevelt ist auch Churchill hörig, wenn es gegen uns Deutsche geht. Nun drängt die Zeit zu Entscheidungen. Könnte ich mich nur auf Mussolini und Franco verlassen, aber ich stehe allein!"

TB 12.12.1940: "Morgenlagebesprechung. Befehle Großeinsätze unserer Marine und Luftwaffe gegen England. Meldung. Churchill teilt in einem Schreiben Roosevelt mit, er habe nicht mehr das Geld, Waffen aus Amerika zu kaufen. Nun habe ich ihm bald. Churchill darf doch nicht hoffen von diesem den Juden hörigen Roosevelt nur eine Pistolenkugel umsonst zu griegen. Der Herrgott steht mir immer bei!"

Klemperer schreibt am 31. Dezember 1940: "Resümee 1940 kurz zu fassen: Am 24. Mai ins Judenhaus vertrieben. (…) Sprache tertii imperii: Im Neujahrsbefehl Hitlers an das Heer wieder die 'Siege von einmaliger Größe', wieder der amerikanische Superlativ: 'Das Jahr 1941 wird die Vollendung des größten Sieges unsere Geschichte bringen.'" (Klemperer 2015: 467)

Weitere Informationen
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Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Reschke Fernsehen | 23.02.2023 | 23:35 Uhr

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