Dampfeisbrecher "Stettin": Mit Kohlekraft voraus
Einst hochmoderner Eisbrecher, später Flüchtlingsschiff, heute technisches Kulturdenkmal: Die "Stettin" blickt auf eine wechselvolle Vergangenheit zurück.
Als die "Stettin" am 16. November 1933 in Dienst kommt, ist sie der größte Eisbrecher unter deutscher Flagge. Die Industrie- und Handelskammer Stettin hat das Dampfschiff von den Stettiner Oderwerken zwischen 1932 und 1933 erbauen lassen. Der Eisbrecher soll den Zugang zum Stettiner Haff und den Seeweg von Stettin nach Swinemünde und zur Ostsee eisfrei halten.
Die Industrie- und Handelskammer Stettin unterhält zu dieser Zeit eine eigene Eisbrecherflotte, um eine freie Zufahrt zu der ab 1936 zweitgrößten Hafenstadt des deutschen Reichs zu ermöglichen. Als modernstes und größtes Schiff ist die "Stettin" das Flaggschiff dieser Flotte, zu der außerdem die vier Eisbrecher "Preußen", "Pommern", "Berlin" und "Swinemünde" gehören.
Mit neuer Rumpfkonstruktion durch das Eis
Obwohl Dieselmotoren in den 30er-Jahren längst bekannt sind, wird die "Stettin" bewusst noch mit einer kohlebefeuerten Dampfmaschine ausgestattet. Auf diese Weise ist es möglich, das Schiff innerhalb von nur drei Sekunden von Vorwärts- auf Rückwärtsfahrt umzusteuern. Dadurch kann die "Stettin" sehr gut manövrieren - das ist wichtig, um im Eis festsitzende Schiffe freizubrechen. Als erstes deutsches Schiff wird die "Stettin" außerdem mit einem sogenannten Runeberg-Steven ausgestattet. Statt sich mit dem Rumpf auf das Eis zu schieben und es so nur durch das Gewicht zu zerdrücken wie bei den früher gebauten Eisbrechern mit Löffelbug, zerteilt der Runeberg-Steven das Eis mit einer Schneidspante, sodass es seitwärts abbricht.
Mit 2.200 PS Eis brechen und "boxen"
Dank der besonderen Rumpfform und der Maschinenleistung von maximal 2.200 PS kann die "Stettin" bei langsamer Fahrt eine geschlossene Eisdecke von bis zu einem Meter brechen. Ist das Eis dicker, muss das Schiff "boxen", also mehrmals vor und zurücksetzen, bis das Eis zerbricht.
Doch die "Stettin" lässt sich nicht nur als Eisbrecher, sondern auch als Bergungsschiff einsetzen. Hierzu ist sie zusätzlich mit Schlepphaken, kräftigen Winden und Kreiselpumpen ausgerüstet. Außerdem hat sie Stahlringschläuche an Bord, die sich bis zu einer Länge von 60 Metern zusammensetzen lassen. Mit ihnen kann das Schiff aus gekenterten Schiffen bis zu 500 Kubikmeter Wasser pro Stunde absaugen. 22 Mann Besatzung sind notwendig, um die Stettin zu betreiben.
Bis 1945 ist das Dampfschiff auf der Oder und der Ostsee im Einsatz. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wird der Eisbrecher zum Flüchtlingsschiff: Im März 1945 nimmt das Schiff in Stettin 500 Kriegsflüchtlinge an Bord und bringt sie sicher über die Ostsee nach Kopenhagen.
Bis 1981 auf Elbe, Nord- und Ostsee im Einsatz
Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die "Stettin" unter die Verwaltung der Wasser- und Schifffahrtsdirektion Hamburg gestellt. Neuer Liegeplatz war der Tonnenhof in Wedel. Bis 1981 ist sie in eisigen Wintern auf der Unterelbe, auf dem Nord-Ostsee-Kanal, in der Kieler Bucht und auf der Ostsee im Einsatz. 1981 soll das betagte Dampfschiff schließlich verschrottet werden. Ein neu gegründeter Förderverein kauft die "Stettin" und rettet sie vor diesem Schicksal. Seither pflegen, verwalten und fahren der Verein und seine ehrenamtlichen Helfer das Schiff. 1982 wird die "Stettin" von den Behörden als technisches Kulturdenkmal anerkannt.
Heute ist der Eisbrecher nur noch während der Sommermonate für Gästefahrten auf der Elbe sowie der Nord- und Ostsee unterwegs. Dann können Besucher im Maschinenraum den Heizern dabei zusehen, wie sie per Hand bis zu 1.500 Kilogramm Kohle pro Stunde verfeuern, um die zwei riesigen Kessel unter Dampf zu halten. Obwohl das Schiff theoretisch weiter als Eisbrecher einsatzbereit ist, liegt die "Stettin" am Hamburger Anleger Neumühlen beim Museumshafen Oevelgönne. Dort kann der Eisbrecher täglich von 10 bis 18 Uhr besichtigt werden.
Für Aufsehen sorgt die Kollision mit der finnischen Fähre "Finnsky" bei der Hanse Sail 2017: Zehn Passagiere werden leicht verletzt und der Schiffsrumpf oberhalb der Wasserlinie aufgeschlitzt. Nach einer umfangreichen Sanierung kehrt die "Stettin" im Juni 2020 an ihren Liegeplatz in Neumühlen zurück.