Schulenberg im Oberharz: Ein ganzer Ort versinkt im See
Mit Sack und Pack verlassen die Schulenberger am 29. August 1954 ihr idyllisches Zuhause. Das Dörfchen im Oberharz muss der neuen Okertalsperre weichen und wird geflutet. Das neue Schulenberg entsteht oberhalb des Stausees.
Schulenberg im Sommer 1954: In dem Oberharzer Dorf leben fast 300 Menschen, die meisten in kleinen Holzhäusern. Aber das ist bald Vergangenheit, die Abrissbagger rücken an. Das sogenannte Weißwassertal soll einem Stausee weichen. Eine dringend erforderliche Maßnahme, sagen Politiker, Ingenieure und Wasserbauexperten.
Schneeschmelze sorgt für verheerende Überschwemmungen
Die Schneeschmelze der vergangenen Winter hat erhebliche Wassermassen aus dem Mittelgebirge in die umliegenden Orte gespült und verheerende Überschwemmungen verursacht, unter anderem in Wolfenbüttel und Braunschweig. Deshalb soll die Oker mit einer 75 Meter hohen Betonmauer kurz hinter Schulenberg gestaut werden. Im Sommer ist die Oker ein plätscherndes Flüsschen, aber im Winter und Frühjahr kann sie sich in einen reißenden Strom verwandeln.
Der große Umzug - und Europa guckt zu
Am Sonntag, den 29. August, verlassen die Umsiedler das Waldarbeiterdorf im Kreis Goslar. Der Umzug ist von großem Medien-Interesse. Rund 10.000 Gäste begleiteten ihn - an der Spitze marschiert der Bürgermeister. Reporter und Kamerateams aus ganz Europa sind dabei. Ihr neues Zuhause beziehen die Schulenberger westlich ihrer alten Wohnstätte auf dem "Kleinen Wiesenberg". Das neue Schulenberg liegt rund 60 Meter über dem Stausee auf 490 Metern Höhe und mit schönem Blick über den See sowie auf den Brocken.
Schon seit 1928 Baustopp im Dorf
Das "Sterben" des alten Schulenbergs hat aber bereits viel früher begonnen und mehr als 40 Jahre gedauert. Als 1912 Landvermesser im Tal gesichtet werden, gibt es schon erste Vorahnungen. Im Jahr 1928 erhält der Gemeindevorsteher ein amtliches Schreiben, in dem ihm mitgeteilt wird, welches Schicksal den aus Unter-, Mittel- und Ober-Schulenberg bestehenden Ort erwartet. Von da an dürfen die Bewohner nicht mehr bauen. Ihre Häuser müssen so bleiben, wie sie sind - denn Entschädigung gibt es nur für jene Werte, die am Tage der Hiobsbotschaft schon vorhanden waren. Obwohl mehrere Jahre nichts passiert, traut sich niemand, das Bauverbot zu missachten. Im Sommer 1938 rücken dann Arbeiterkolonnen an. Während des Zweiten Weltkriegs ruhen die Arbeiten.
30.000 Kubikmeter Hochwald fallen der Talsperre zum Opfer
1949 werden die Arbeiten an der Talsperre fortgesetzt. An den Berghängen werden neue Straßen gebaut, an zwei Stellen müssen Brücken errichtet werden. Die Harzwasserwerke, die für den Bau der Talsperre zuständig sind, erwerben die Häuser im Tal. Die Gebäude werden bis auf die Grundmauern abgerissen. Die früheren Besitzer bekommen neue Grundstücke auf dem Wiesenberg. 1956 ist die Talsperre fertig, am 24. März wird erstmals Wasser eingestaut. Insgesamt werden dafür knapp 30.000 Kubikmeter Hochwald abgeholzt. Etliche Hänge rund um den Ort sind plötzlich kahl.
Tourismus löst Berg- und Holzbau ab
Seit dem 16. Jahrhundert haben die Schulenberger in den tiefen Stollen der Harzer Bergwerke gearbeitet. Gefördert wurden vor allem Silber, Kupfer und Blei. Nach der Aufgabe der Gruben im Jahr 1904 war der Hauptwirtschaftszweig der Holzbau.
Seit 2015 ist Schulenberg im Oberharz zusammen mit der Bergstadt Clausthal-Zellerfeld, der Bergstadt Altenau und der Bergstadt Wildemann Teil der neu gebildeten Berg- und Universitätsstadt Clausthal-Zellerfeld. Die knapp 300-Seelen-Gemeinde lebt heute vom Tourismus. Urlauber können klettern, wandern und im Winter Ski und Snowboard fahren. Im sogenannten Racepark werden Mountainbiker auf den 645 Meter hohen Wiesenberg gebracht. Von dort geht es über verschiedene Abfahrten talwärts. In der Volksbank Arena Harz stehen den MTB-Freunden auf 74 Routen rund 2.200 Streckenkilometer zur Verfügung.
Die Sage von der Kirchturmspitze
"In den alten Kuhställen leben heute sicher dicke Forellen", sagt ein Tourist beim Blick in den Okerstausee - was durchaus wahr sein kann. Indes hält sich noch hartnäckig die Mär, dass bei niedrigem Wasserstand die Kirchturmspitze Schulenbergs unter der Wasseroberfläche des Okerstausees zu sehen und manchmal Glockengeläut zu hören sei - in dem Dorf hat es vor der Umsiedlung aber kein Gotteshaus gegeben. Eine Kirchturmspitze im See war aber tatsächlich zeitweise zu sehen. Ein Kapitän der Okersee-Schifffahrt GmbH hatte sich einen Spaß erlaubt: Er hatte eine Kirchturmspitze nachgebaut und sie im Stausee verankert.
Bei Niedrigwasser werden aber ab und zu einige alte Grundmauern der abgerissenen Häuser sichtbar.
Ein Gebirge voller Talsperren
Insgesamt gibt es im Harz heute mehr als 50 Talsperren. Das Mittelgebirge ist eines der regenreichsten Gebiete Deutschlands. Dort wurde die Wasserkraft schon frühzeitig eingesetzt, um Pumpen im Bergbau zu anzutreiben. Einige Talsperren, wie etwa die Oberharzer Teiche, wurden bereits im 16. Jahrhundert angelegt. Heute ist der Harz der größte Trinkwasserspeicher Norddeutschlands. Die meisten Talsperren wurden in den 1950er- und 60er-Jahren gebaut, als es einen regelrechten Boom gab. Diesem Boom fiel auch das alte Schulenberg zum Opfer. Die Schulenberger sind die einzigen Harz-Bewohner, die wegen des Baus eines Stausees ihren Ort verlassen mussten. Den Einwohnern von Sieber im Südharz drohte das gleiche Schicksal, doch sie konnten sich erfolgreich dagegen wehren.