Thedinghausen an der Weser gehörte fast 300 Jahre zu Braunschweig
Fast 300 Jahre lang war ein kleines Dorf bei Bremen ein einsamer Außenposten Braunschweigs im Nordwesten Deutschlands - bis in die 1970er-Jahre hinein. Dabei ist Thedinghausen rund 150 Kilometer entfernt. Warum war das so?
Ein wenig einsam steht das Denkmal am östlichen Rand von Thedinghausen, direkt neben der Brücke über den kleinen Fluss Eiter: Ein steinerner Obelisk, am Sockel prangt ein Löwenkopf, darüber eine Plakette mit dem Profil eines bärtigen Mannes: Wilhelm, Herzog von Braunschweig von 1830 bis 1884. Auf den ersten Blick wirkt das deplaziert: Warum steht ausgerechnet in diesem kleinen Ort bei Bremen ein Denkmal für einen braunschweigischen Landesfürsten? Doch tatsächlich ist das Monument eines der sichtbarsten Überbleibsel aus Thedinghausens einzigartiger Geschichte - denn der Ort am Weserdeich war fast 300 Jahre lang eine winzige Exklave, die vom fast 150 Kilometer entfernten Braunschweig aus regiert wurde.
Anfänge liegen im 17. Jahrhundert
Die Geschichte von Thedinghausen als einsamen Vorposten der Löwenstadt im Bremer Umland beginnt im 17. Jahrhundert. Nachdem es mehr als 30 Jahre schwedisches Territorium gewesen war, gingen das Dorf Thedinghausen und einige Nachbarorte am Ende des Nordischen Krieges 1679 in den Besitz der Herzoge von Braunschweig-Lüneburg über. Ein Teil des Territoriums wurde zwei Jahre später noch abgetrennt, doch ein schmaler Streifen Land, vom Weserufer über Thedinghausen bis zum südlich davon liegenden Dorf Emtinghausen blieb bei Braunschweig - und das 293 Jahre lang. Erst als Teil des Herzogtums, in der Weimarer Rebublik als Teil des Freistaates Braunschweig, und schließlich als Exklave des Landkreises Braunschweig in der Bundesrepublik.
Man kam aus der Gegend von Bremen, aber auch aus Braunschweig
"Man musste das den Leuten schon immer ein bisschen erklären, dass man aus der Gegend von Bremen kommt, aber trotzdem auch aus Braunschweig", erinnert sich Margret Ebert. Die elegant gekleidete 91-Jährige mit den wachen Augen stammt aus Dibbersen, einem der kleinen Nachbarorte, der ebenfalls Teil des braunschweigischen Gebiets war. "Meine Mutter war zum Beispiel Hebamme für Thedinghausen und sie musste für ihre Ausbildung extra zwei Jahre nach Braunschweig auf die Hebammenschule gehen. Auch später, für Fortbildungen, ist sie immer nach Braunschweig gereist. Und auch die Lehrer und die meisten Ärzte im Ort, die kamen eigentlich immer aus der Stadt. Aber wir waren zufrieden, Braunschweig hat sich immer gut um uns gekümmert."
"Das war schon etwas Besonderes"
Das bestätigt auch Klaus-Dieter Schneider. Der schlanke Mann mit dem kurzen grauen Bart ist ehrenamtlicher Archivar der Samtgemeinde Thedinghausen und Vorsitzender des Heimatvereins, sozusagen das lebende Gedächtnis des Ortes. "Während der Braunschweiger Zeit hat sich Thedinghausen immer ein kleines bisschen städtischer angefühlt als die umliegenden Orte. Wir hatten hier mehr Geschäfte, mehrere niedergelassene Ärzte, eine gute Schule, ein eigenes Amtsgericht und sogar ein Kreiskrankenhaus. Das war schon etwas Besonderes."
Einmal im Monat: Die Behörden kamen zu den Thedinghäusern
Allerdings brachte das Leben so weit ab vom Verwaltungszentrum des Landkreises im Südosten von Niedersachsen auch einige besondere Schwierigkeiten mit sich. Vor allem Behördengänge waren für die Thedinghauser eigentlich immer mit einer regelrechten Odyssee verbunden. Doch auch dafür gab es eine pragmatische Lösung: Die Thedinghäuser mussten nicht zu den Behörden kommen, die Behörden kamen zu den Thedinghäusern. In regelmäßigen Abständen, normalerweise einmal im Monat, reisten Beamte aus der fernen Kreisverwaltung mit der Bahn nach Thedinghausen und hielten dort Sprechstunden. "Eine offizielle Amtsstube gab es ja nicht", berichtet Klaus-Dieter Schneider. "Also wurden die Hinterzimmer der örtlichen Kneipen wie dem 'Braunschweiger Hof' kurzerhand zu provisorischen Amtsstuben umgewidmet."
Auch der Kreistag des Landkreises Braunschweig reiste regelmäßig nach Thedinghausen und hielt dort Sitzungen und Sprechstunden ab. Die Bewohner des kleinen Orts an der Weser mochten zwar mehr als 100 Kilometer vom Rest ihres Landkreises entfernt leben, sie sollten aber gut versorgt sein.
Gebietsreform bedeutet das Ende der Exklave
Das Ende der kleinen braunschweigischen Insel vor den Toren Bremens kam schließlich mit der Gebietsreform Anfang der 1970er-Jahre. In ganz Niedersachsen wurden damals Kommunen zusammengelegt und Gemeindegrenzen neu gezogen - auch die von Thedinghausen, das nun an den benachbarten Landkreis Verden angegliedert werden sollte.
"Begeistert waren wir nicht gerade", erinnert sich Margret Ebert. "Wir waren ja immer Braunschweiger gewesen, und jetzt sollten auf einmal zu Verden kommen, auf der anderen Weserseite. Mit denen hatten wir doch gar nichts zu schaffen." Doch trotz aller Vorbehalte: Am 1. Juli 1972 ging Thedinghausen nach 293 Jahren unter braunschweigischer Herrschaft an Verden über - das Ende einer langen Ära.
Überall im Ort sieht man noch Spuren
Doch auch wenn das inzwischen über 50 Jahre her ist: Ein bisschen Braunschweig stecke immer noch in Thedinghausen, meint Gemeindearchivar Klaus-Dieter Schneider: "Wenn man mit offenen Augen durch den Ort geht, dann sieht man überall die Spuren." Das Gemeindewappen, das dem Braunschweiger Löwen nachempfunden ist, zum Beispiel. Oder die Apotheke im Ortskern, die immer noch nach Braunschweig benannt ist. Oder eben das Denkmal für den Braunschweiger Herzog Wilhelm am Eiterufer. "Es gibt sogar noch ein paar alte Braunschweiger Kennzeichen an landwirtschaftlichen Anhängern", erzählt Schneider. "Und viele der älteren Thedinghäuser sind immer noch ein bisschen stolz darauf, als Braunschweiger geboren zu sein."