Nach Lichtenhagen: Protest der "Nazi-Jäger" Klarsfeld in Rostock
Nach den ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Lichtenhagen demonstrieren Aktivisten um Beate und Serge Klarsfeld 1992 in Rostock für das Bleiberecht von Sinti und Roma. Die Aktion eskaliert. Was tun mit dem Erbe der Aktion?
Unscheinbar, fast versteckt hängt sie am Rostocker Rathaus: eine Gedenktafel mit der Überschrift "Deutschland im Herbst 1992". Im Text darauf ist die Rede von rassistischen Gewalttaten in Rostock und anderen Städten. Die Erinnerung an die tagelangen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 darauf wird ergänzt: "In einer einzigen Nacht unvergesslichen Grauens wurden am 2. August 1944 die 3.000 noch lebenden Menschen im Zigeunerlager Auschwitz-Birkenau durch Gas ermordet." Markiert sind die Aussagen auf der Tafel als Zitat. Doch wer sind die Autoren? "Das ist wirklich ein wichtiges zeithistorisches Dokument", sagt Thomas Werner, der in der Rostocker Stadtverwaltung auch für das Gedenken an Lichtenhagen zuständig ist. "Deswegen ist das Original ja auch im Museum." Denn die unscheinbare Gedenktafel hat eine eigene Geschichte, die kurz nach den Ausschreitungen Ende August 1992 beginnt.
Ehepaar Klarsfeld: Schlagzeilen mit Suche nach Nazi-Größen
Als die Bilder vom brennenden Sonnenblumenhaus um die Welt gehen, erreichen sie auch das Aktivisten-Ehepaar Beate und Serge Klarsfeld in Paris. In der Nachkriegszeit hatten die beiden als "Nazi-Jäger" bereits einige Skandale in der Bundesrepublik ausgelöst: Im November 1968 verpasste die junge Aktivistin Klarsfeld dem früheren NSDAP-Mitglied und damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger auf öffentlicher CDU-Parteitagsbühne eine Ohrfeige, schrie "Nazi!" und wurde noch am selben Tag im Schnellverfahren verurteilt. Schlagzeilen machte das Ehepaar auch mit seiner Suche nach hochrangigen Nazi-Größen: So versuchten sie etwa, den Ex-SS-Führer Kurt Lischka zu entführen. In Bolivien spürten die Klarsfelds den einstigen Gestapo-Chef Klaus Barbie - bekannt als "Schlächter von Lyon" - auf und brachten ihn vor Gericht.
Jüdische Aktivisten kämpfen für Sinti und Roma
Auch heute, mit weit über 80 Jahren, ist das in Paris lebende Ehepaar noch viel auf Reisen und arbeitet weiter an seiner Lebensaufgabe. Gerade erst haben die beiden in Berlin eine Ausstellung dazu eröffnet. Zum Filmfest Hamburg treffen wir sie bei der Weltpremiere eines Dokumentarfilms über ihr Leben. Und auch wenn Rostock darin nur eine kleine Rolle spielt, erinnern sich Beate und Serge Klarsfeld gut an die Reise: Mehr als 1.000 Kilometer aus Paris in die Hansestadt per Reisebus, an Bord knapp 50 Aktivisten ihrer Organisation "Söhne und Töchter der deportierten Juden Frankreichs": "Als Söhne und Töchter der Juden, die von Nazis ermordet wurden, war es selbstverständlich, dass wir uns für die Menschen einsetzen, deren Eltern zur gleichen Zeit starben wie unsere", sagt Serge Klarsfeld heute. Gemeint sind Sinti und Roma, für deren Bleiberecht die jüdischen Aktivisten im Oktober 1992 in Rostock demonstrieren wollen.
"Da mussten wir einschreiten"
Die damalige Bundesregierung hatte nur wenige Wochen zuvor ein sogenanntes Rückübernahmeabkommen mit Rumänen unterzeichnet, mit dem abgelehnte Asylbewerber, die meisten von ihnen Roma, schneller abgeschoben werden sollten. Die jüdischen Aktivisten wollen das nicht akzeptieren, sehen darin eine Deportation, und mahnen die deutsche Verantwortung an. Juden und Roma hätten "das gleiche Schicksal" gehabt, sagt Beate Klarsfeld: "Das war für uns ein Anlass, dass wir da einschreiten mussten."
"Überall in Deutschland brannte es"
Auch Roma beteiligen sich an der Aktion, darunter der Hamburger Rudko Kawczynski. Er erinnert sich an eine Zeit voller Hass und Gewalt gegen Geflüchtete Anfang der 90er-Jahre: "Kinder wurden mit Gas besprüht. Wir haben damals fürchterliche Situationen erlebt. Wir konnten dem als Bürgerrechtsbewegung gar nicht mehr nachkommen, weil es überall in Deutschland brannte." Über einen befreundeten französischen Journalisten vernetzt sich der Hamburger mit den jüdischen Aktivisten. Ihr Ziel sei klar gewesen: dass sich die Reichspogromnacht hier nicht wiederholt. "Und dass das nicht nur in Deutschland, sondern eben auch im europäischen Ausland beachtet wird", so Kawczynski.
Die Stadt Rostock und die Klarsfelds bleiben uneins
Die Bilder vom Protest am 19. Oktober 1992 vor dem Rostocker Rathaus schaffen es erneut in die Tagesschau. Denn die Aktion eskaliert. Die Klarsfelds hatten vor ihrer Reise zwar Kontakt ins Rostocker Rathaus aufgenommen, doch die Stadt will über Ort und Termin des Gedenkens noch verhandeln. Auch über den Text der Gedenktafel, die die Aktivisten anbringen wollen, wird man sich nicht einig: "Die Tafel haben wir dann wild geklebt", erzählt Beate Klarsfeld. "Und dann sind wir auch ins Rathaus gegangen und haben unser Schild rausgehangen: 'Keine Ausweisung der Sinti und Roma'. Und daraufhin kam es dann zu diesen Ausschreitungen."
Aktion endet mit Pfefferspray und Festnahmen
Vier Demonstranten werden von der Polizei in Gewahrsam genommen - und von Mitstreitern wieder befreit. "Man hat dort auch Tränengas eingesetzt. Zum Glück ist nichts weiter passiert. Aber es war schon heftig", erinnert sich auch Rudko Kawczynski. Ein Spezialeinsatzkommando hindert den Reisebus nach den Auseinandersetzungen daran, abzufahren. Die Polizei ermittelt zunächst gegen alle 46 Demonstranten und nimmt sie in Gewahrsam. In der folgenden Nacht werden die meisten von ihnen freigelassen - auch Familie Klarsfeld. Drei Franzosen bleiben allerdings in Haft - wegen des Widerstands gegen Vollzugsbeamte und gefährlicher Körperverletzung. Aus Protest dagegen wird unter anderem das Goethe-Institut in Paris angegriffen.
Rostock fürchtet um seinen Ruf
Rostock fühlt sich an den Pranger gestellt. Kommunalpolitiker werten den Protest fraktionsübergreifend als provokativ. In einem Interview des NDR Nordmagazin rechtfertigt der Präsident der Bürgerschaft, Christoph Kleemann (Bündnis 90), man habe sich als Stadt um einen Konsens bemüht: "Leider hat Frau Klarsfeld alle Zusagen nicht eingehalten", so sein Vorwurf. Die Stadt fürchtet um ihren Ruf. Mit den Aktivisten will sie nicht mehr verhandeln und den Text der Gedenktafel kann die Kommunalpolitik ebenfalls nicht akzeptieren. Sie wird abmontiert, landet im Keller, später im Museumsdepot - und ist lange vergessen.
Bis 2012 zum 20-jährigen Gedenken an Lichtenhagen die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) ein Duplikat anfertigen lässt. Ein leicht veränderter Text ist darauf zu lesen, gekennzeichnet als Zitat. Auch er sorgt beim Lichtenhagen-Gedenken 2012 für Diskussionen in der Stadtpolitik. Dieses Mal einigt sich die Bürgerschaft allerdings darauf, die Tafel zu dulden. Doch schon wenige Monate später wird sie gestohlen. Die Täter hinterlassen ein Schild mit der Aufschrift "Für immer Deutschland!". Erst Jahre später taucht sie wieder auf.
"Ein kleiner Stachel im Fleisch der Neonazis"
"Ich glaube, es wird als etwas Positives in Erinnerung bleiben - auch in der jüdischen Welt, denn wir waren die Einzigen, die dort eingeschritten sind", sagt Serge Klarsfeld heute über seinen Protest in Rostock 1992. Die massenhaften Abschiebungen von Roma nach Rumänien konnten die Aktivisten allerdings nicht verhindern. Rudko Kawczynski betrachtet die Aktion trotzdem nicht als erfolglos. Es sei einmalig, dass Opfer sich dort gemeinsam einen Gedenkort erstritten hätten: "Es ist ein kleiner Stachel im Fleisch der Neonazis".
Die Rostocker Bürgerschaft will sich schon Anfang November noch einmal mit ihrer Gedenktafel auseinandersetzen und nun endgültig entscheiden, was damit passieren soll. Thomas Werner glaubt, dass die Worte und ihre Geschichte dem Betrachter besser erklärt werden müssten, etwa durch einen Hinweis. Eines sei aber klar, meint er. Die Sicht auf die Ausschreitungen und die Opfer der Angriffe in Lichtenhagen sei heute ein völlig anderer als noch vor 30 Jahren, aber: "Einen angemessenen Blick auf das Schicksal der Roma 1992 hat es bisher eigentlich nicht gegeben - und da werden wir weiter dran arbeiten müssen."