"Was war da los?": Der Kahlschlag von Sögel
Das Emsland vor wenigen Jahren: Geplagt von einem einseitig agierenden Baumschädling? Oder haben Teilnehmer einer Motorsägen-Meisterschaft hier geprobt? Nein. Es war der Auftakt eines Transports, bei dem nichts lief, wie es sollte. Die NDR Serie "Was war da los?" schaut zurück.
9. Mai 2019: Wer sich an diesem Donnerstagmorgen zum Einkaufen auf den Weg ins Gewerbegebiet "Püttkesberge" nach Sögel macht, mag sich die Augen reiben: Eine Handvoll Mitarbeiter eines Landschaftspflegeunternehmens ist an der Umgehungsstraße L53 mit schwerem Gerät zugange. Und das Ergebnis ist ... gründlich. An etlichen Alleebäumen haben sie die zur Fahrbahn wachsenden Äste abgesägt. Komplett. Die bis zu neun Meter hoch gewachsenen Linden sehen aus wie Spielzeugbäume, die mit einer Tischkreissäge halbiert wurden.
"Hat mit fachgerechter Arbeit nichts zu tun"
Als der damalige Samtgemeindebürgermeister Günter Wigbers (CDU) am Vormittag von dem radikalen Baumschnitt erfährt, setzt er sich ins Auto und fährt ins Gewerbegebiet. Auf den ersten Blick ist ihm klar: "Das alles hat mit fachgerechter Arbeit nichts zu tun." In der Brutzeit ab März dürfen die Bäume nicht gestutzt werden, erst recht nicht so stark, ist sich Wigbers sicher. Darüber hinaus kann das Unternehmen keine Genehmigung für das Beschneiden der Bäume vorlegen - lediglich für einen geplanten Schwerlasttransport, für den die Linden derart gestutzt werden sollen. Der soll zwei Wochen später über eine rund 60 Kilometer lange Route von Haselünne über Sögel zum Güterverkehrszentrum nach Dörpen rollen. Wigbers bittet die Mitarbeitenden des Fachbetriebs, die Arbeit sofort abzubrechen. Doch die stehen unter Druck, weil sie die Bäume fristgerecht beschneiden müssen, um vom Auftraggeber nicht mit einer Vertragsstrafe belegt zu werden, erinnert sich Wigbers. Als die Gartenbauer nicht reagieren, ruft er die Polizei dazu. Das Einschreiten der Beamten wirkt. Zwölf Linden sind da allerdings schon gestutzt.
"Halbe Bäume" aus dem Emsland machen Schlagzeilen
Die "halben Bäume" von Sögel machen in den folgenden Tagen bundesweit Schlagzeilen in Zeitungen, Nachrichtenportalen und im Fernsehen. Derweil fordern Sögel und andere von mitunter ebenso radikalem Baumschnitt betroffene Kommunen auf der Transportstrecke eine Erklärung - und Schadenersatz. Insgesamt geht es offenbar um mehrere Hundert Bäume.
Eine Genehmigung aus der Ferne
Hüven und Sögel reichen beim Verwaltungsgericht Osnabrück einen Eilantrag gegen die Transportgenehmigung ein. Die hat der Landkreis Steinfurt in Nordrhein-Westfalen erteilt, in dem die beauftragte Spedition ihren Sitz hat. Die Beteiligten einigen sich wenige Tage später außergerichtlich. Der Kreis Steinfurt hebt die Genehmigung auf. Nach mehreren Gesprächen sind sich Behörden und Unternehmen einig, "dass im bisherigen Antrags- und Genehmigungsverfahren nicht die gesamte Komplexität des Transportes - besonders die naturfachlichen Auswirkungen - beachtet wurde", wie der Landkreis Emsland mitteilt.
Behörden-Versprechen: Beim nächsten Mal wird alles besser
Wann und auf welchem Weg der Schwerlasttransport nach Dörpen nun starten soll, bleibt zunächst offen. Allerdings - so der Tenor - sollen Naturschutzbelange beim nächsten Anlauf im Fokus stehen. Zudem verständigen sich die Landkreise darauf, dass der neue Antrag dort gestellt wird, wo die Lastwagen über die Straßen rollen: im Emsland. Kürzere Kommunikationswege sollen sicherstellen, dass alle Betroffenen eingebunden und die Maßnahmen abgestimmt werden - von der Straßenmeisterei über die Kommunen und die Untere Naturschutzbehörde beim Landkreis bis zur Zweigstelle des Landesamts für Straßenbau in Lingen. Das war beim ersten Mal offenbar nicht passiert.
Die Lieferung: Zwei jeweils 250 Tonnen schwere Tanks
Konkret geht es um zwei jeweils 250 Tonnen schwere Gastanks, die vom Hersteller in Haselünne über den Dörpener Hafen per Schiff zu einer Industrieanlage in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen gebracht werden sollen. Die Kohlendioxid-Behälter sind 35 Meter lang und haben einen Durchmesser von 6,50 Metern. Für ihren Transport sind je zwei Tieflader mit Zug- und Schubmaschine nötig - beide Gespanne drücken mit jeweils rund 430 Tonnen Gewicht auf den Asphalt.
3D-Analyse und Kompromisse - doch die Route bleibt
Im Januar 2020 teilt der Landkreis Emsland mit, dass das Transportunternehmen einen Antrag gestellt habe. Geplant ist, die beiden Gastanks vor der Brut- und Setzzeit ab März durch das Kreisgebiet rollen zu lassen und auch sonst so wenig in die Natur einzugreifen wie möglich. "Im Kern ging es um die Frage, ob es alternative Streckenführungen gegenüber der bisher geplanten Strecke gibt", schildert Kreisbaurat Dirk Kopmeyer der "NOZ" das Verfahren. Allerdings bestätigt sich, dass die ursprüngliche Route über Herzlake, Hüven und Sögel die optimale ist. Sechs weitere scheiden wegen Gewichts- beziehungsweise Höhenbeschränkungen aus - oder weil die Bäume dort noch stärker zurückgeschnitten werden müssten. Diesmal werden vor dem Transport besonders enge Stellen auf der Route mit einem 3D-Scanner vermessen und geprüft, wie stark der Rückschnitt sein muss. Zugunsten der Bäume akzeptiere der Auftragnehmer zudem "leichte Beschädigungen an der Außenhaut der Tanks", so Kopmeyer.
"Rache" der "halben" Linden? Riesen-Tank rollt vom Auflieger
An einem Sonntag Ende Februar startet der Transport dann tatsächlich auf zwei Tiefladern durchs Emsland - begleitet von der Polizei und Arbeitern, die bei Bedarf Bäume stutzen. Mehrere Hundert Schaulustige stehen entlang der Strecke, um das Spektakel zu beobachten - und sie bekommen Unerwartetes zu sehen. Wer an höhere Mächte glaubt, mag meinen, Baum-Gottheiten würden ihrer Wut über die verunstalteten Linden nun freien Lauf lassen.
Die um ihre Kronen gebrachten Linden haben ihre Äste freilich nicht mit im Spiel, als etwa auf halber Strecke einer der Tanks hinter Sögel vom Anhänger rutscht - und auf einem Acker landet. Der zweite Tieflader steckt hinter der Unfallstelle fest. Bevor er weiterfahren kann, muss die Bergung des verunglückten Tanks mithilfe von vier Schwerlastkränen geplant und erledigt werden. Polizei und Gutachter gehen von menschlichem Versagen als Ursache für den Unfall aus. Der zweite Tank kann schließlich zum Hafen gebracht werden. Ende März erreicht auch der verunglückte Behälter das Güterverkehrszentrum - etwa ein Jahr später als geplant.
Rund 125.000 Euro Extra-Kosten für knapp 300 Bäume
Die Kosten steigen am Ende deutlich - auch wegen des Schadenersatzes für die im Frühjahr 2019 gekappten Bäume. Ein Sachverständigenbüro untersucht im Auftrag der Unteren Naturschutzbehörde des Landkreises Emsland die Pflanzen und die Auswirkungen des Beschnitts auf die Vogelwelt und das Ortsbild. Je stärker ein Baum beschnitten ist, desto höher die Kompensationsleistung: Für die Samtgemeinde Sögel mit 70 mitunter massiv gestutzten Bäumen errechnen die Experten dementsprechend 146 Neupflanzungen. Für den Schaden entlang der gesamten Route muss die Spedition in den Herbst- und Wintermonaten 2021/2022 insgesamt 292 Bäume mit einem Stammumfang von 16 bis 18 Zentimetern pflanzen. Die Kosten dafür liegen bei rund 125.000 Euro. Ob das Transportunternehmen einen Teil vom Auftraggeber oder dem Landschaftspflegeunternehmen erstattet bekommt, ist nicht bekannt.
Anders als befürchtet ist von den zwölf "halbierten" Linden an der Sögeler Ortsumgehung bislang keine eingegangen. Auch die anderen beschädigten Bäume stehen noch. Durch Belüftung des Bodens, Dünger und vor allem einen Beschnitt an der Radwegseite von unten her sollen die Baumkronen arttypisch nachwachsen können, heißt es vom Landkreis. Inzwischen wirken die Linden zwar nicht mehr wie halbierte Spielzeugbäume - doch ihr Anblick mahnt noch immer.